Strecke, Favoriten, deutsche ChancenTour de France versetzt Kopenhagen in Radrausch

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Tour-Start in Kopenhagen: Radsportler beim Training vor der ersten Etappe

Kopenhagen – Die Hauptstadt am Meer ist ohnehin schon im Fahrradtaumel, in diesem Tagen aber befinden sich ihre Einwohner in einem Zustand des beseelten Rauschs rund um Kette, Sattel und Lenker. Die Tour de France ist zu Gast in Kopenhagen, Europas Fahrrad-Metropole Nummer eins empfängt somit das größte Radrennen der Welt, selten haben im Kosmos der Frankreich-Rundfahrt zwei Seiten besser zueinander gepasst. Die Präsentation der teilnehmenden Mannschaften am Mittwochabend im völlig überfüllten zentralen Vergnügungspark Tivoli war wenig überraschend ein Triumph. Mehr Zuschauer, mehr Stimmung und mehr pure Freude hatte es bei einer solchen Veranstaltung noch nicht gegeben. Das betonten alle danach gefragten Profis, der slowenische Vorjahressieger Tadej Pogacar hob sogar zu einer Ode des Glücks und der Freude an: „Das hier ist ein fantastischer Ort mit fantastischen Menschen und einer fantastischen Stimmung.“

Der dänische Mitfavorit Jonas Vingegaard wurde derart enthusiastisch empfangen, dass ihm Tränen der Rührung über die Wangen kullerten. Das Publikum rief minutenlang seinen Nachnamen, er kam fast gar nicht zu Wort, ehe er nur sagen konnte: „Ich bin emotional voll getroffen. Was für ein krasser Empfang.“ Tour-Direktor Christian Prudhomme, mitgerissen vom Rausch der Masse, hob die Arme und rief aus: „Ich gebe euch das erste Gelbe Trikot dieser Tour de France.“

Dies ist natürlich ein virtueller Dress, am Freitag aber wird das erste echte Maillot Jaune im Anschluss an ein 13-Kilometer-Zeitfahren durch gewiss voll besetzte Straßen der dänischen Hauptstadt verliehen. Die Tour startet diesmal so weit nördlich wie noch nie, ihre 109. Auflage birgt nicht nur deshalb auf ihren 3350 Kilometern Länge eine Menge Spannung. Ein Überblick.

Der Grand Départ

Die erste Etappe

Kopenhagen hat 650 000 Einwohner, die 750 000 Fahrräder besitzen, die Wege-Infrastruktur ist exzellent. Mitten durch dieses Radler-Zentrum verläuft die erste Etappe der Tour, ein 13-Kilometer-Zeitfahren. Der Franzose Lecroq eröffnet es um 16 Uhr, der Hürther Nils Politt ist als fünftletzter Starter um 18:51 Uhr dran. Favorit Wout van Aert (Belgien) geht um 17:04 von der Rampe. (skl)

Drei Tage gastiert die Tour in Dänemark, ihre Teilnehmer durchfahren von Osten nach Westen fast die gesamte Breite des Landes. Am Samstag geht es von Roskilde nach Nyborg nahezu komplett an der windigen Ostsee entlang. Das Finale führt die Profis über den Großen Belt von Seeland nach Fünen und über die dort platzierte, gewaltige Brücke, die nach jeweils rund sieben Kilometern auf beiden Seiten von der Insel Sprogö unterbrochen wird. Das Ziel ist nur zwei Kilometer hinter dem Brückenabfahrt in Nyborg. Streckenplaner Thierry Gouvenoux setzt also auf Windstaffeln vor und auf der Brücke – und somit auf Spektakel. Der Wind, ewiger Begleiter von Radfahrern in Dänemark, soll schließlich auch an Tag drei zwischen Vejle und Sönderborg für auseinandergerissene Fahrerknäuel sorgen.

Die erste Woche

Der Start bereitet den Klassementfahrern somit gleich Stress, ein Grundprinzip, dem Gouvenoux auch in den folgenden Tagen der ersten Tour-Woche folgt. Vor allem die fünfte Etappe ist darauf ausgelegt, große Unruhe zu verbreiten. In die Strecke von Lille nach Arrenberg sind elf fiese Kopfsteinpflaster-Passagen eingebaut, was der klassischen Ideologie der Frankreich-Rundfahrten unter der Regie des Renndirektors Prudhomme folgt: Ein Tour-Sieger soll sich auf allen Weg-Facetten behaupten können. Das Finale der ersten Woche wird die Gesamtwertung durchwirbeln: Es geht am 8. Juli in den Vogesen hinauf auf die Planche des Belles Filles, ein Anstieg der ersten Kategorie.

Der restliche Parcours

Ruhe ist den Fahrern bei dieser Tour nicht vergönnt. Mit Beginn der zweiten Woche gibt es immer wieder brutale Anstiege, zunächst in den Alpen, selbst die Zubringeretappen, die in die Pyrenäen führen, haben es in sich.

Die Favoriten

Tadej Pogacar ist erst 23 Jahre alt, hat die Tour aber in den vergangenen beiden Jahren gewonnen. Er ist der Fünf-Sterne-Favorit des Rennens, weil er in der Lage ist, in allen Bereichen zu überzeugen. Er fährt aufmerksam auf der Windkante, ist stark auf Klassikerterrain, nahezu unbezwingbar in den Bergen, ein sehr guter Zeitfahrer und obendrein endschnell. Das ist ein Gesamtpaket, an das derzeit kein anderer Fahrer heranreicht. Eine solche Überlegenheit provoziert naturgemäß in jeder Sportart Zweifel, zumal Pogacars Umfeld in Sachen Dopingvergangenheit sehr problematisch ist.

Gegen Pogacar bietet das Team Jumbo-Visma eine Doppelspitze auf, bestehend aus Primoz Roglic, auch er ein Slowene, und Vingegaard, die, unterstützt von starken Helfern, in der Lage ist, eine Etappe komplett auseinanderzufahren.

Die Deutschen

Diesmal sind nur neun deutsche Fahrer dabei, weniger, genau acht, waren es zuletzt vor 20 Jahren. Vor allem das deutsche Team Bora-hansgrohe bietet ein einheimisches Trio mit besten Aussichten auf einen Etappensieg auf: Lennard Kämna hat beim Giro d’Italia im Mai die schwere Tageswertung hinauf auf den Ätna gewonnen und sich in Italien stets als sehr aktiver Angreifer gezeigt.

Der neue deutsche Meister Nils Politt aus Hürth bekommt ebenfalls eine freie Angreiferrolle. Die hatte er im Vorjahr bereits zu einem Etappensieg genutzt. Auch Maximilian Schachmann, im Frühjahr von Krankheiten ausgebremst, ist auf schwerem Terrain ein Kandidat für einen Tagessieg. In der Gesamtwertung dürften deutsche Profis diesmal hingegen keine Rolle spielen.

Doping

Am frühen Donnerstagmorgen wurde das Hotel des Teams Bahrain Victorious von dänischen Beamten durchsucht. Die Kopenhagener Polizei handelte dabei im Auftrag der französischen Staatsanwaltschaft, die seit der Tour 2021 wegen Doping-Verdachts gegen die Equipe ermittelt. Bei der zweistündigen Razzia wurden ab 5.30 Uhr alle Fahrzeuge des Teams sowie die Zimmer des Personals und der Fahrer durchsucht. Die Auswahl teilte mit, dass keine Gegenstände beschlagnahmt worden seien. Es ist davon auszugehen, dass die Untersuchungen weitergehen, sobald die Tour-Teilnehmer am Montag französischen Boden erreicht haben.

Corona

Zuletzt gab es bei der Tour de Suisse einen veritablen Corona-Ausbruch mit vielen betroffenen Fahrern, die das Rennen nach der positiven Testung aufgeben mussten. Dennoch lockerte der Radsport-Weltverband (UCI) vor der Frankreich-Rundfahrt die Regeln. Eine Mannschaft wird nun nicht mehr aus dem Rennen genommen, sobald zwei Fahrer positiv getestet werden.

Russland

Ein russischer Fahrer ist dabei – Alexander Wlasow aus dem deutschen Team Bora-hansgrohe. Seine Mannschaft sieht in ihm sogar einen Podiumskandidaten. Die Tour de Suisse im Juni verließ er nach einem positiven Corona-Test in Führung liegend. Das Virus habe ihn nicht geschwächt, sagt Wlasow. Medizinisch spricht also nichts gegen seinen Tour-Start und auch politisch tun sich keine Grenzen auf.

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Wlasow hatte sich im März zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geäußert: „Wie viele Russen auch möchte ich nur Frieden. Leute wie ich wurden nicht gefragt, ob wir einen Krieg wollen.“ Er hoffe, „dass es bald enden wird“. Mehr braucht Wlasow aus Sicht seines Teams zu diesem Thema nicht zu sagen. Alle Fragen dazu blockt es ab.

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