Stochern im Nebel

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Dieser Mann soll das Fahrrad mit dem auf dem Gepäckträger befestigten Sprengsatz geschoben und in der Keupstraße abgestellt haben. Die Aufnahme stammt von einer Überwachungskamera in der Nähe des Tatorts.

Dieser Mann soll das Fahrrad mit dem auf dem Gepäckträger befestigten Sprengsatz geschoben und in der Keupstraße abgestellt haben. Die Aufnahme stammt von einer Überwachungskamera in der Nähe des Tatorts.

Köln - Zwischen Pampelmusen, Melonen und Strickwaren auf dem Mülheimer Wochenmarkt beginnt die Arbeit der Mordkommission „Sprengstoff“ wieder bei Null. Während Händler aufgeregt ihre Angebote ins Gewühl der Einkäufer schreien, steht Oberstaatsanwalt Rainer Wolf nachdenklich im Schatten des geräumigen Sicherheitsmobils der Polizei. Sieben Wochen nach dem Bombenanschlag in der Keupstraße wirken die Ermittler müde und gestresst. 200 Hinweise haben sie abgearbeitet - ohne Erfolg. Drei Verdächtige wurden festgenommen und wieder entlassen. Nach den jüngsten Rückschlägen ist es fast schon symptomatisch, dass die Polizei auf einen Wochenmarkt im Stadtteil Mülheim fährt, um die Erkenntnisse der sonst stets um Geheimhaltung bemühten „Profiler“ von der Abteilung „Operative Fallanalyse“ des Landeskriminalamtes (LKA) vorzustellen. Und je mehr Zeit vergeht, desto größer wird die Angst vor einer Wiederholungstat. „Es ist mit Menschenleben gespielt worden. Nur durch ein Wunder wurde niemand getötet. Von den Tätern geht eine ungeheure Gefahr aus, falls sie den »Kick« des Anschlags nochmal erleben wollen“, fürchtet Oberstaatsanwalt Wolf. Und dass sie dies tun werden, dafür spricht nach Ansicht der Ermittler eine Reihe von Indizien.

Wochenlang haben die LKA-Spezialisten die Spuren des Anschlags ausgewertet und nun eine erste Prognose zu Psyche und Motiv der Täter abgegeben. Inzwischen ist man sich sicher, dass zwei Täter gemeinsam die Explosion des mit Nägeln gespickten Sprengkörpers geplant haben. Vor einem Frisörsalon war die Bombe am 9. Juni explodiert - 22 Menschen erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Die gesuchten Männer seien „keine klassischen Schwerverbrecher“, sondern unscheinbare Gestalten. „Vermutlich sind die Täter befreundet oder sogar verwandt. Vielleicht haben sie Familie“, sagte Kriminalhauptkommissar Markus Weber. „Profis“ seien die Bombenleger nicht, auch einer Organisation sollen sie nicht angehören.

Einen terroristischen Hintergrund schließen die Fahnder mittlerweile aus. Schließlich seien die Opfer nichr gezielt gewählt gewesen. Aber wo lag das Motiv? Ein Racheakt aus persönlichen Gründen sei denkbar, ebenso Fremdenhass. Schließlich explodierte die Bombe in der überwiegend von Türken bewohnten Keupstraße. „Es muss einen Bezug zu Mülheim geben. Vielleicht wohnt zumindest einer der Täter hier“, überlegt Kriminalhauptkommissar Markus Weber. Vielleicht habe einer der Männer auch eine Garage oder einen Bastelraum irgendwo im Stadtteil.

Aus der Bauweise der Bombe haben die Profiler ebenfalls ihre Schlüsse gezogen. Der mit Schwarzpulver gefüllte Sprengsatz war auf dem Gepäckträger eines Fahrrads befestigt und wurde durch eine Modellbau-Fernsteuerung gezündet. Möglicherweise habe einer der Täter früher schon gerne mit Silvesterknallern oder Sprengstoff hantiert. Auf jeden Fall verfügte einer der Gesuchten über besondere technische Fertigkeiten. Offenbar habe sich einer der Bombenleger in seiner Freizeit mit Modellflugzeugen beschäftigt.

Für die recht ausführliche Rekonstruktion des Tatgeschehens haben die Täter selbst gesorgt. Auf dem Weg zum Anschlagsort waren sie von einer Überwachungskamera gefilmt worden - offenbar ihr einziger Fehler. „Die Tat war gut durchdacht. Das gilt auch für die Phase nach der Tat. In ihrem direkten Umfeld scheint niemand Verdacht geschöpft zu haben“, stellte Markus Weber fest. Innerhalb von 34 Minuten war einer der Männer dreimal von einer Kamera vor dem Gebäude des Musiksenders „Viva“ gefilmt worden. Zunächst schob er kurz vor der Bombenexplosion zwei Fahrräder in die Keupstraße, kam ohne die Räder zurück und ging schließlich erneut in Richtung Keupstraße - dicht gefolgt von seinem Komplizen, der das Fahrrad samt Bombe schob. Nachdem sie dieses vor dem Frisörladen abgestellt hatten, bestiegen sie offenbar die beiden Fluchträder und fuhren aus der Gefahrenzone, ehe einer der beiden den Sprengkörper zündete.

Auf dem Mülheimer Wochenmarkt verteilt die Polizei am Freitag neue Fahndungsplakate. Auch an Haltestellen, in Bussen und Bahnen sollen sie angebracht werden. Die Ermittler suchen ihr Heil in der Offensive und versprechen sich von dem vorgestellten Täterprofil eine heiße Spur. „Jeder sollte die Personen in seinem Umfeld überprüfen und uns Hinweise mitteilen“, wünscht sich Markus Weber. Der immense Ermittlungsdruck veranlasst Oberstaatsanwalt Rainer Wolf zu recht drastischen Formulierungen. „Sollten die Täter nicht bald gefasst werden, muss sich jeder klar sein, dass demnächst vielleicht Tote auf der Straße liegen.“

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