U-BahnDas Protokoll eines Versagens

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In der Baugrube an der Unglücksstelle sind die Schlitzwände wieder freigelegt. (Bild: Schwarz)

In der Baugrube an der Unglücksstelle sind die Schlitzwände wieder freigelegt. (Bild: Schwarz)

Köln – Bericht vom 20.2.2010

Es ist Nachmittag und die Greiferzähne sind schon wieder abgebrochen. In einer Tiefe von etwa 29 Metern ist das Spezialgerät auf ein Hindernis aus Metall gestoßen. Bereits bei 13 Metern, drei Tage zuvor, war dies passiert, und das Gerät musste ausgewechselt werden.

3,40 Meter lang und einem Meter breit soll der Schlitz werden, der nach seiner Fertigstellung 40 Meter tief in den Boden führt. Damit er nicht zusammenfällt, wird er zunächst mit Betonit gefüllt, das dann am Ende durch Beton ersetzt wird. Lamelle 11, ein Abschnitt der Außenwand an der U-Bahn-Baustelle Waidmarkt. Die Außenhülle wird gesetzt, bevor die Grube ausgehoben wird. Die so genannte Schlitzwand soll die Bauarbeiten, nur 500 Meter vom Rhein entfernt, unter anderem vor störendem Grundwasser schützen.

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Doch der Greifer ist wieder abgebrochen. Wieder Verzögerung, dabei ist der Zeitplan im September 2005 doch so eng. Die Bauarbeiter um Polier Rolf K. versuchen, von der Erdoberfläche aus das in 29 Metern liegende Hindernis wegzumeißeln. Doch das gelingt offensichtlich nicht. Es wird überlegt, was zu tun ist. Vier Tage später gehen die Arbeiten weiter. Mit einem schmaleren Greifer. Der misst nur noch 2,80 Meter statt 3,40 Meter.

Hindernis in der Erde

Die Probleme an Lamelle 11 sind längst vergessen, als etwa dreieinhalb Jahre später das Kölner Stadtarchiv einstürzt. Das Gebäude, das unmittelbar an die U-Bahn-Grube Waidmarkt grenzt, ist urplötzlich in sich zusammen gebrochen. Zwei Menschen starben am 3. März 2009. Dutzende konnten sich wie durch ein Wunder retten.

Die Gutachter der Staatsanwaltschaft vermuten ein Loch in Lamelle 11, durch das über lange Zeit hinweg Grundwasser eindrang. Das Leck könnte dadurch immer durchlässiger geworden sein, wodurch es am Tag der Katastrophe zu einem explosionsartigen Einbruch kam. Doch die Lücke alleine hat womöglich nicht zum Unglück geführt. Bereits vor dem Einsturz könnte durch das Abpumpen von riesigen Mengen Grundwasser ein Hohlraum unter der Vorderseite des Archivs entstanden sein, sagt ein Ermittler. Zudem ist nicht auszuschließen, dass es noch in weiteren Abschnitten der Schlitzwand Probleme gab.

Massenweise falsche Protokolle, gestohlene und nicht eingebaute Sicherheitsbügel, illegale Brunnen, zu viel abgepumptes Grundwasser, immer wieder neue Risse in der Schlitzwand, vor allem aber auch fehlende Kontrollen und womöglich falsch gedeutete Alarmzeichen, die nach Ansicht eines Experten zum sofortigen Baustopp hätten führen müssen: Probleme sind Normalität auf technisch anspruchsvollen Großbaustellen wie der Kölner Nord-Süd-Bahn, doch die Geschehnisse am Waidmarkt gehen nach Recherchen des "Kölner Stadt-Anzeiger" weit darüber hinaus. Ob ursächlich für den Einsturz oder nicht: Gespräche mit Insidern und interne Papiere legen den Verdacht nahe, dass "geschlampt, unterschlagen, vertuscht und systematisch gefälscht" wurde. Die Liste der Merkwürdigkeiten liest sich wie ein Bericht aus einer Bananenrepublik.

Lamelle 11

Hinweise auf ein Loch in Lamelle 11 liefern unter anderem Ultraschall- und Röntgenuntersuchungen sowie Infrarotaufnahmen, die nach dem Unglück gemacht wurden. Ob diese Indizien für eine straf- und zivilrechtliche Verurteilung ausreichen, ist ungewiss. Klarheit soll deshalb ein Sichtschacht schaffen, der außerhalb der Grube zur verschütteten Unglücksstelle in etwa 30 Metern Tiefe gegraben werden soll.

Die Staatsanwaltschaft prüft, ob beispielsweise der Einsatz des schmaleren Greifers im September 2009 ein Leck verursacht haben könnte. Denkbar sind jedoch auch noch andere Ursachen. Möglich ist dem Vernehmen nach, dass das für die abschließende Betonierung notwendige Metallgeflecht in der benachbarten Lamelle 10 leicht verschoben eingebaut wurde. Zudem könnte es sein, dass das abschließende Fugenblech der Lamelle 10 etwa durch die Meißelarbeiten beim Bauschlitz für Lamelle 11 beschädigt wurde und dass sich dadurch ein Hohlraum gebildet hat. "Es gibt zahlreiche Gründe, weshalb ein Teil der Wand an dieser Stelle nicht betoniert sein könnte, was dann zum Unglück geführt haben könnte", so ein Insider.

Die gefälschten Protokolle

Von Problemen jedoch ist im Vermessungsprotokoll der Lamelle 11, das die exakten Maße des Wandabschnitts dokumentieren soll, keine Rede. Im Gegenteil: Das rechtlich vorgeschrieben Papier zeigt Idealmaße. Als Experten der Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) das Papier noch einmal überprüfen, entdecken diese, dass die Daten nicht stimmen können. Auch das Protokoll für die Betonierung ist verkehrt, stellt sich später heraus. In Wahrheit wurde wohl zu wenig Beton eingefüllt. Weitere Untersuchungen ergeben, dass Vermessungsprotokolle von 28 Lamellen verfälsch sind. "Da ist mit System getrickst worden", sagt ein KVB-Aufsichtsratsmitglied. "Es stellt sich schnell die Frage, bis in welche Etage man gehen muss, um derart manipulieren zu können." Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Bauleiter und Oberbauleiter des Baukonzerns Bilfinger Berger, der für die Schlitzwand-Arbeiten verantwortlich ist. Das Unternehmen hat die Mitarbeiter in der vergangenen Woche suspendiert.

Die gestohlenen Eisenbügel

Suspendiert wurde auch ein Polier, der mit seiner Kolonne zahlreiche Eisenbügel gestohlen und an einen Schrotthändler verkauft haben soll. Lediglich 17 Prozent der für die Stabilität der Außenwände notwendigen Teile hatte er einbauen lassen. Die U-Bahn-Haltestelle Heumarkt soll deshalb sicherheitshalber bei Hochwasser geflutet werden, damit der Außendruck nicht zu stark wird. Ein Skandal, der im Zuge der Ermittlungen entdeckt wurde, der aber mit dem Archiveinsturz nach bisherigen Erkenntnissen nichts zu tun hatte.

Die Schlitzwand

Angesichts falscher Protokolle und fehlender Sicherheitsbügel erstaunt es kaum, dass in den Monaten vor dem Unglück im Gruben-Tagebuch immer wieder von Fehlstellen die Rede ist. "Schlitzwand-Undichtigkeit, erheblicher Wassereintritt", heißt es am 22. Januar 2009. Insgesamt gibt es in den darauf folgenden vier Wochen 13 Einträge zu Lecks in den Wänden, berichtet ein Insider. Am 4. Februar, einen Monat vor dem Einsturz, notieren die Baufirmen, beim Aushub in 22 Meter Tiefe sei ein weiteres etwa einen halben Quadratmeter großes Loch freigelegt worden. Es sei viel Wasser eingedrungen, dadurch könne sich ein Hohlraum gebildet haben.

Das Grundwasserproblem

Schon seit langem gibt es gravierende Schwierigkeiten mit dem Grundwasser. "Alarm", heißt es beispielsweise im Bautagebuch des 11. April 2008. Die Grube werde geflutet, das Wasser stehe bereits fünf Zentimeter über der Sohle. Am 9. September muss die Baustelle "infolge Wassereintritts" sogar komplett geräumt werden. Am Ende gibt es 23 Brunnen in der Grube - genehmigt von der Unteren Wasserbehörde der Stadt jedoch sind lediglich vier.

Die illegalen Anlagen laufen zeitweise auf Hochtouren. Am 21. Februar 2009 beispielsweise werden 1341,46 Kubikmeter Wasser pro Stunde aus dem Untergrund der Baugrube gezogen. Obwohl der für die Statik verantwortliche Prüfingenieur zuvor betont hat, dass bereits eine Wassermenge von 317,5 Kubikmeter pro Stunde als bedenklich angesehen wird. Großräumige Grundwasserabsenkungen jedenfalls seien keinesfalls erlaubt.

Im Rheinauhafen, in den das Wasser mehrerer U-Bahn-Baustellen gepumpt wird, finden die Ermittler nach dem Unglück eine Sandbank. Wurden mit dem vielen Grundwasser verhängnisvoll viele Teilchen aus dem Erdreich weggeschwemmt? Hat sich dadurch unter der Vorderseite des Archivs ein Hohlraum gebildet? Um diese Frage zu klären, werden derzeit unter anderem Wasserproben aus der Waidmarkt-Grube analysiert und einige geborgene Pumpen untersucht.

Risse im Archivgebäude

Nicht nur die Grundwasserprobleme, auch Veränderungen am Stadtarchiv hätten nachdenklich machen müssen. Am 18. Dezember 2008, etwa neun Wochen vor dem Einsturz, werden im Keller des Archivs unter anderem verschobene Bodenfliesen und eine "schadhafte" Dehnfuge zu einem Nachbargebäude entdeckt. Ein Experte schätzt diese Hinweise, die auf Bewegungen des Hauses hinweisen, als unproblematisch ein.

Selbst als am 5. Februar bei einer stichprobenartigen Kontrolle ein Vermessungstechniker feststellte, dass sich das Archiv innerhalb eines Tages um sieben Millimeter abgesenkt hatte, passierte nichts. Die Senkung wurde als noch tolerierbar angesehen. Spätestens jetzt hätten "die Alarmglocken schrillen müssen", meint ein Fachmann, der nicht genannt werden will. "Da passierte etwas Gravierendes im Untergrund, und das hätte gründlich analysiert werden müssen."

Die Kritik des Prüfstatikers

Ihm jedenfalls seien die Probleme in der Waidmarkt-Grube verschwiegen worden, beklagte Prüfingenieur Professor Rolf Sennewald nach dem Einsturz im Polizeiverhör. "Mit keinem Wort" sei er über die Schwierigkeiten informiert worden, sagte der Münchner Professor für Ingenieurwissenschaften, der die statischen Berechnungen für die Baugrube kontrollieren sollte. Ob diese Ereignisse denn Hinweise auf eine gefährliche Situation gewesen wären, wollten die Ermittler wissen. "Eindeutig ja", antwortete Sennewald. Es wäre "ein sofortiger Baustopp veranlasst gewesen".

Das Kontroll-Desaster

Massenhaft fehlende Eisenbügel, zu wenig Beton in einer Schutzwand, verfälschte Protokolle: kaum vorstellbar, wie all das unbemerkt bleiben konnte. Prüfingenieur Sennewald wurde die Aufsicht auf der Baustelle von der KVB nicht übertragen. Aus Kostengründen, was ein großer Fehler gewesen sei, beklagte sich der Professor in seiner Vernehmung. Stattdessen wurden KVB-Prüfer, also Mitarbeiter des Bauherrn, mit der Kontrolle am Waidmarkt betraut - und so zwangsläufig in eine Interessenskollision gebracht.

Die KVB wollte sich "im Hinblick auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen" am Freitag nicht zu den Vorwürfen äußern. Auch zu belastenden Aussagen von Brunnenbauern, die von fehlender Kontrolle am Waidmarkt berichten, wollte ein KVB-Sprecher keine Stellung beziehen. Die Mitarbeiter einer Firma aus Thüringen, die zahlreiche Brunnen in der Grube installiert und betreut haben, gaben bei ihrer polizeilichen Vernehmung an, sie könnten sich an keine einzige Überprüfung vor dem Unglück erinnern. Auch die wöchentlich vorgeschriebenen Messungen an den Brunnen seien nie kontrolliert worden. Eine Bauaufsicht habe es "faktisch" nicht gegeben.

Die Mängel-Listen

Rathaus

Für die Baustelle am Rathaus haben die Kölner Verkehrs-Betriebe verfälschte Messprotokolle entdeckt. Ex-Oberbürgermeister Fritz Schramma berichtete, dass sein Bürosessel während der Bauarbeiten gewackelt habe.

Heumarkt

Experten des Tüv haben geprüft, ob die Metallanker in der Betonwänden richtig montiert worden sind. Es wurde nichts Auffälliges festgestellt. In einigen Bauabschnitten fehlen 83 Prozent der vorgesehenen Eisenbügel. Bei einem Rheinpegel von 6,50 Metern wird die Grube geflutet.

Waidmarkt

An der Einsturzstelle des Stadtarchivs haben die Untersuchungen ergeben, dass Vermessungsprotokolle und Betonierungsprotokolle falsch sein sollen. Vor dem Einsturz gab es erhebliche Probleme beim Abpumpen des Grundwassers.

Severinstraße

Soweit wegen des fortgeschrittenen Baus noch möglich, werden sämtliche Betonteile geprüft. Die Protokolle werden ebenfalls noch einmal kontrolliert.

Kartäuserhof

Der Polier, gegen den wegen Eisendiebstahls und verfälschter Vermessungsprotokolle ermittelt wird, hat vertretungsweise auch am Kartäuserhof und am Chlodwigplatz gearbeitet. Die KVB hat entdeckt, dass auch hier Protokolle manipuliert worden sein sollen.

Chlodwigplatz

Die Baustelle ist erst vor kurzem ins Visier der Ermittler geraten. Mindestens ein Vermessungsprotokoll für den Bau eines Schlitzwand-Abschnitts soll bei Manipulationen eine Rolle gespielt haben.

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