Übergewicht„Ich hatte das Leben satt“

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Franz Peter Ritz am Steuer seines Autos: Er kann wieder am Leben teilnehmen und hat einen Job in einem Supermarkt gefunden. (Bild: Max Grönert)

Franz Peter Ritz am Steuer seines Autos: Er kann wieder am Leben teilnehmen und hat einen Job in einem Supermarkt gefunden. (Bild: Max Grönert)

Köln/Aachen – Eine englische Telefonzelle wiegt 370 Kilo. Oder ein Pkw-Anhänger im leeren Zustand. 370 Kilo schwer war Franz Peter Ritz. Er war einer der dicksten Menschen Deutschlands. Etwas mehr als ein Jahr ist das her. Wenn der 36-Jährige sich nicht zu einer Operation entschlossen hätte, würde er heute nicht mehr leben. Aber er lebt. Und er hat 185 Kilo abgenommen.

Ritz passt jetzt wieder in ein Auto, hinter ein Lenkrad, kann den Sicherheitsgurt um sich schnallen. Er kann spazieren gehen und den Trödelmarkt besuchen. „Und ich kann eine Armbanduhr tragen“, sagt er und streicht mit der Hand über das lederne Armband. Immer wieder macht er das, während er erzählt. Was er früher an einem Tag gegessen hat, reicht ihm jetzt für eine ganze Woche. Bis zu acht Liter Cola hat er jeden Tag getrunken, Chips, Brötchen, zusätzlich zu den normalen Mahlzeiten. Außerdem hat er 50 Zigaretten am Tag geraucht. Das hält niemand aus. Während einer Kur brach Ritz zusammen, Herz und Nieren versagten. Im Klinikum Merheim wurde der 36-Jährige im Oktober 2008 operiert.

„Ohne einen Magenbypass wäre er definitiv gestorben“, sagt Oberarzt Jürgen Meyer, der Ritz operiert hat. Mit Hilfe einer Klammernaht wurde ein Großteil des Magens entfernt. Eine Dünndarmschlinge um den Restmagen verkürzt die Verdauungsstrecke, statt rund drei Meter ist Ritz' Dünndarm nur noch 50 Zentimeter lang. „Er kann so keine Nährstoffe mehr aufnehmen, das Essen bleibt nicht lange im Körper“, sagt Meyer. Der Körper muss automatisch auf eigene Fettreserven zurückgreifen - bis zu 80 Prozent des Übergewichts könnten so reduziert werden.

Magen-OP: Teuer, aber dennoch rentabel

Diese Methode ist effektiv, wird aber nur bei extrem übergewichtigen Menschen angewendet. Vor allem, weil die Krankenkassen die etwa 7.000 Euro für eine solche Operation nur in wenigen Fällen übernehmen. Das seien „Peanuts“, wenn man die Kosten betrachte, die ohne Operation entstehen würden - als Spätfolgen ihrer Esssucht werden adipöse Menschen oft zuckerkrank, leiden an Bluthochdruck. „Im europäischen Vergleich leben in Deutschland die meisten Übergewichtigen“, sagt Meyer. Während in den USA von 100.000 extrem Adipösen etwa 150 einen Magenbypass bekämen, seien es hier zwei bis drei.

Die Gründe dafür, warum jemand so dick werden kann, sind vielfältig. „Die Betroffenen sind nicht immer selbst schuld.“ Meist fängt es schon in der Kindheit an. So wie bei Franz Peter Ritz. Er war schon immer dick. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Maurer, verlor den Platz, weil die Firma Pleite ging. Je mehr Probleme auf ihn zukamen, desto mehr musste er essen. „Die Menschen geraten in eine Spirale, aus der sie sich nicht mehr selbst befreien können“, sagt Meyer. Essen werde erst zum Trostmittel und schließlich zur Sucht. Da dicke Menschen aus Scham ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, bricht oft das soziale Umfeld weg, Frust und Einsamkeit folgen.

14 mal XL als Konfektionsgrüße

Franz Peter Ritz wurde endgültig aus der Bahn geworfen, als sein Vater starb. Er hing nur noch zu Hause rum. „Der Fernseher lief 24 Stunden am Tag“, sagt er. Natürlich hat er auch versucht, abzunehmen, aber nach wenigen Wochen hatte er die doppelte Menge wieder drauf. Irgendwann hat er das Haus nur noch verlassen, um zum Supermarkt zu fahren. Irgendwann passte er nicht mehr in sein Auto. Im letzten Dreivierteljahr vor der Operation ist er nicht mehr vor die Tür gegangen. Er war gefangen in seiner eigenen Wohnung. Seine damalige Freundin und seine Mutter versorgten ihn mit Lebensmitteln. 14 mal XL war seine Kleidergröße. Heute hat er noch vier mal XL, kann wieder Hemden tragen. „Hosen haben mir gar nicht gepasst, ich musste immer Stoffstücke reinsetzen lassen“, erzählt er. Unter seinem Bett waren Kisten und Balken gestapelt, damit es nicht zusammenkracht. Und er musste Angst haben, dass die Toilette von der Wand bricht, wenn er sich setzte. „Ich hatte das Leben regelrecht satt.“

Seine Freundin blieb trotzdem bei ihm, die Beziehung war aber längst nicht mehr glücklich. „Als ich im Krankenhaus lag, hat sie mich verlassen“, sagt er. Ritz setzte all seine Hoffnungen in die lebensrettende Operation. „Mir war klar: Wenn du nach der Operation aufwachst, hast du ein neues Leben“, sagt er. Dieses neue Leben liebt er so sehr, dass ihm die Tränen kommen, wenn er Fotos aus einer anderen Zeit sieht. Bilder, die ihn als Koloss auf der Couch oder im Bett zeigen - bewegungsunfähig, lustlos, resigniert. Die alten Klamotten hat er weggeschmissen. „Ich konnte das Zeug nicht mehr sehen, ich habe mich vor mir selbst geekelt.“ Angst, wieder zuzunehmen, hat er nicht. „Lieber würde ich meinen Kopf gegen eine Wand schlagen.“ 120 Kilogramm sind sein nächstes Ziel. In einer weiteren Operation wird dann die überschüssige Haut an seinem Bauch, den Armen und Beinen entfernt. Er ist immer noch schnell außer Atem, bekommt Krämpfe, weil seine Muskeln sich entwickeln müssen. Seine Schritte sind klein. Aber sie führen in ein immer leichteres Leben.

Neue Liebe und neues Leben

Ritz hat inzwischen eine Arbeit gefunden in dem kleinen Ort bei Aachen, in dem er lebt. Er räumt Regale in einem Supermarkt ein. Und er ist verliebt. Marion lernte er kennen, als er noch unbeweglich im Bett lag. Die Altenpflegerin kam immer vorbei, um ihm sein wund gelegenes Bein zu verbinden. Aus dem Krankenhaus schickte er ihr eine Nachricht und sie besuchte ihn in Köln. „Ich kannte ihn ja eigentlich nur liegend - auf dem Sofa, im Bett“, erzählt die 24-Jährige. Sie schmieden Pläne, haben eine gemeinsame Wohnung. Der Fernseher läuft kaum noch. Marion hat es sogar geschafft, ihren Freund zu einem Saunabesuch zu überreden. Die Blicke der anderen sind beiden egal. „Wenn ein Spruch kommt, reagiere ich entsprechend“, sagt sie nur. Was kannst du? Was hast du? Wie siehst du aus? Diese Fragen haben Marion nie interessiert. Sie sagt, dass sie die Ängste ihres Freundes kennt und ihm sie gerne nehmen will. „Ich war selbst mal dick, habe 95 Kilo gewogen“, erzählt sie. Heute wiegt sie 60 Kilo. Sie trägt enge Jeans und Stiefel. Am Wochenende fahren die beiden oft in die Eifel. Franz Peter Ritz möchte bald nach Berlin und nach Paris. „Und irgendwann in den großen Flieger“, sagt er.

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