Vor 20 JahrenGladbeck, der ewige Albtraum

Lesezeit 7 Minuten
Die damals 18-jährige Bischoff wird fast während der gesamten Geiselnahme von Degowski direkt mit der Waffe bedroht. (Bild: Archiv)

Die damals 18-jährige Bischoff wird fast während der gesamten Geiselnahme von Degowski direkt mit der Waffe bedroht. (Bild: Archiv)

Bei der Kaperung des Linienbusses in Bremen, fällt das Auge von Dieter Degowski auf Silke Bischoff. Sie ist jung, blond und schön. Er hält sie für eine Schauspielerin. Er wählt sie, die sonst für ihn Unerreichbare, als einzige Geisel aus. Ines Voitle, seit Kindertagen mit Silke befreundet, will sie nicht mit den Gangstern allein lassen und bietet sich als Begleiterin an. Für die 18-Jährige beginnt ein Albtraum, von dem sie sich auch 20 Jahre später nicht erholt hat. Frust-Fress-Attacken wechseln mit Depressionen, an denen ihre Ehe zerbrach. Sie lebt heute allein mit ihrer 16 Jahre alten Tochter und arbeitet in jener Tierhandlung, von der Silke Bischoff sie am Abend des 17. August 1988 abgeholt hat. Silke, in Ausbildung zur Staatsanwaltsgehilfin, hatte früher Dienstschluss. "Hätte sie nicht auf mich gewartet, wäre sie ja viel früher zu Hause gewesen." Diese Kausalität macht Ines Voitle immer noch zu schaffen. Was wäre, wenn...

Es ist auch Silke, die sie anschreit, als die Polizei auf der Autobahn 3 hinter Siegburg das Fluchtfahrzeug rammt: "Spring raus! Geh raus! Geh raus!" Ines Voitle springt.

Interview wird zum Verhängnis

Alles zum Thema Polizei Köln

Am nächsten Tag wird Ines Voitle von der Kölner Polizei vernommen, als plötzlich ihr Stievater mit einem Rechtsanwalt aufkreuzt. Der Jurist erklärt, dass Ines Voitle nicht vernehmungsfähig sei. Die Polizei bricht die Befragung ab, aber ahnt nicht, dass sie noch am selben Tag einem Reporter Rede und Antwort steht. Interview und die spätere polizeiliche Vernehmung weichen in wichtigen Punkten ab. Da die Widersprüche vom Gericht nicht aufgeklärt werden können, weil der Journalist von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, und Ines Voitle sich nicht genau an Details des Interviews erinnern kann, versuchen die Verteidiger von Rösner und Degowski die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu untergraben. Die Antworten im Interview passen ihnen besser ins Konzept, denn mit ihnen lassen sich Vorwürfe gegen die Polizei untermauern und die Täter entlasten. Unter anderem unterstellt ein Anwalt, ein SEK-Beamter habe Silke Bischoff mit der Pistole Rösners erschossen. Das Gericht kann Gerüchte ausräumen, aber eines kann es nicht: Die Glaubwürdigkeit von Ines Voitle wiederherstellen. Die Geisel Voitle wird zum zweiten Mal zum Opfer.

Im Gerichtssaal hat Ines Voitle die Täter keines Blickes gewürdigt. 19 Stunden Todesangst überschatten noch immer ihr Leben: "Ich habe immer noch Angst, dass sie irgendwann vor mir stehen."

Das Gebaren der Ordnungsmacht eignet sich als negatives Lehrstück für die Polizei-Akademie. Als die Gangster in Bremen vor den Augen der Polizei herumspazieren, befinden sich über 200 Beamte aus Niedersachsen, Bremen und NRW in unmittelbarer Nähe. Sie, überwiegend in Zivil, kennen einander nicht und sind in dem Durcheinander nicht zu identifizieren. Organisatorisches Tohuwabohu, taktische Fehleinschätzungen und eklatantes Missmanagement führen in Bremen zur dramatischen wie tragischen Zuspitzung. Mindestens zweimal, so wird später festgestellt, verpasst oder verpatzt die Polizei den Zugriff. Die verängstigten Geiseln trauen sich nicht, das Auto mit dem schlafenden Degowski zu verlassen, während Rösner und Marion Löblich einkaufen.

Personelle Konsequenzen

Der Bremer Innensenator Bernd Meyer, von Beruf Lehrer, hat eine Woche zuvor den erfahrenen Innenstaatssekretär gefeuert, Polizeipräsident und der Abteilungsleiter für Polizeiorganisation befinden sich in Urlaub. Der Monate später veröffentliche Untersuchungsbericht über die Pannen endet in einer vernichtendem Bilanz: „Von einer Leitung durch den Polizeiführer war nichts zu spüren.“ Aber noch bevor der überforderte SPD-Senator zurücktritt und der Bericht erscheint, frohlocken Degowski und Rösner vor Journalisten: „In Bremen rollen bald die Köpfe.“ Und: „ Auch der Innenminister aus Nordrhein-Westfalen muss den Hut nehmen.“

Doch Herbert Schnoor (SPD) tritt nicht zurück, auch wenn er nur allmählich aus den Fehlern seiner Kollegen zu lernen scheint. Als die Gangster wieder auf dem Weg nach Deutschland sind - mit den Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitle im Fond des BMW - zögert er erst, das Angebot des Bundesgrenzschutzes anzunehmen. Die Eliteeinheit GSG 9, berühmt durch die Befreiungsaktion 1977 von 86 deutschen Touristen aus den Fängen palästinensischer Terroristen in Mogadischu, kann 30 Mann abstellen. Sie dürfen kommen, müssen aber in der zweiten Reihe warten. Polizeiführer Lutz Resch glaubt, dass seine Leute die besseren Spezialisten sind: „Ich habe mich gefragt, was soll die GSG 9 hier.“

In Köln, wohin die Gangster fahren, weil nach Rösners Erinnerungen „da schon einmal Bankräuber der Polizei entwischen konnten“, tauchen schließlich einige der GSG-9-Mitglieder, getarnt als Fotografen im Pulk von Journalisten, Schaulustigen und Polizisten in Zivil auf. Aber da ist es schon zu spät. Der Plan des Kölner Kripo-Chefs Armin Mätzler, die um den BMW stehenden Zuschauer allmählich zurückzudrängen und durch Beamte in Zivil zu ersetzen, scheitert an den Reaktionen der Journalisten. Laut fragen sie: „Wie? Polizei? Zeigen Sie mal Ihren Dienstausweis!“ Das Signal zum Aufbruch löst die Frage, so erinnert sich der früherer Richter und heutige Strafverteidiger Rudolf Enders, eines Reporters an Rösner aus: „In der nächsten Straße ist ein Notarztwagen aufgefahren. Weißt Du, was das bedeutet?“

Aus Gladbeck-Fehlern gelernt

Kriminalbeamte und Psychologen haben monatelang untersucht, warum sich ein Alltags-Delikt von Provinz-Ganoven zur längsten und fatalsten Geiselnahme der Republik entwickeln konnte und daraus die Konsequenzen gezogen. Bei heiklen Einsätzen übernehmen speziell geschulte Polizeiführer und Stäbe aus sechs Polizeipräsidien (NRW) die Leitung, die Kommunikation klappt über Handys (und bald über Digitalfunk) erheblich besser, das Training für die Spezialeinsatzkräfte wird ständig überprüft. Absprachen mit Journalisten haben sich in Einzelfällen als lebensrettend erwiesen wie bei der Entführung von Jan Philipp Reemtsma.

Im Strafprozess gegen die Geiselgangster hat der Kölner Psychoanalytiker Jens Peter Zens viele Phasen des dramatischen Geschehens erhellt, die gruppendynamischen Prozesse zwischen allen Beteiligten analysiert. Das Zusammengehörigkeitsgefühls des Trios, schon vor der Tat eine verschworene Gemeinschaft, ist durch die Tat ins Unermessliche gesteigert worden. Die drei, die zuvor zusammen Alkohol, Drogen und Sex genossen hatten, teilten die Illusion, man können alles glücklich gemeinsam bewältigen. Die unmittelbare Mitwirkung der Medien hat zur Mobilisierung äußerster Reserven beigetragen. Der Satz von Hans-Jürgen Rösner ist inzwischen ein geflügeltes Wort: „Totsein ist schöner als ohne Geld.“

Auf 30.000 Schreibmaschinen-Seiten haben die Ermittler praktisch jede Minute des Geiseldramas protokolliert, in mehreren TV-Dokumentationen ist der Fall noch einmal aufgerollt worden. Die interessanteste hat aus Kilometern von Video-Filmen und Interviews Michael Gramberg für den WDR gedreht. In mehreren Krimiserien sind Parallelen zum Fall zu entdecken. Das NRW-Justizministerium von NRW hat Rösner und Degowski, 1991 zu lebenslanger Haft verurteilt, Interviews im Knast untersagt. Interessenten müssen bis 2013 beziehungsweise 2016 (Rösner) warten.

Erotik des Verbrechens

An manchen Verhandlungstagen präsentiert sich Rösner wie ein Star. Er stellt sich in Positur, lächelt ins Publikum und mustert seinen Fanclub. Der Geiselgangster weiß offenbar, was gewisse Zuschauerinnen von ihm erwarten. Sie kennen schon jeden Kringel und jedes Kreuz, die das T-Shirt freigibt. Einige sind an fast jedem Prozesstag im Saal, und die Essener Taxifahrer freuen sich. Denn wenn die Damen sich sattgesehen haben an Rösner und Degowski aus Gladbeck, lassen sie sich nach Hause kutschieren - nach Düsseldorf, Köln oder sonst wohin, meist in ein schmuckes Eigenheim. „Diese verrückten Weiber“, kommentiert ein Taxifahrer seine großzügige Klientel: „Die haben Geld, aber keinen Geschmack.“

Die Faszination von Räubern und Mördern auf brave Bürgerinnen scheint unersättlich. Spektakuläre Mord-Prozesse ziehen Menschen aller Schichten und Altersgruppen an wie Motten das Licht. Dass auch die Gladbecker Geiselgangster zum Objekt der Begierde wurden, ist für Strafverteidiger und Psychologen keine Überraschung. Je schlimmer das Delikt, desto stärker entwickeln sich offenbar Gefühle. Brutalität ist meist das anziehende Element, auch wenn die Frauen eine solche Faszination leugnen. Die amerikanerische Rechtsanwältin Sheila Isenberg, die in ihrem Buch „Women Who Love Men Who Kill“ diesem Phänomen nachgegangen ist, kommt zu dem Schluss, dass diese Frauen ihre tiefsten Fantasien ausleben. Gerade Mord, so Isenbergs provokante These, mache den Mörder so unvergleichlich sexy und erotisch. Bei der Frau, die ihren vierten Ehemann, den Mörder Degowski, zum ersten Mal auf der Anklagebank gesehen hatte, währte die Attraktivität nicht einmal ein halbes Jahr. Denn statt des in Boulevard-Blättern herbeigeschriebenen Glücks hat sich nur das Finanzamt gemeldet, das von der Sozialhilfeempfängerin seinen Anteil an Exklusivhonoraren forderte.

KStA abonnieren