Abo

War es ein Racheakt, ein Streit im Drogenmilieu oder die Tat eines wirren Einzeltäters?

Lesezeit 5 Minuten

Köln-Zwei Tage nach dem Anschlag beginnen die Anwohner der Keupstraße mit den Aufräumarbeiten. Die Geschäftsleute beraten bei einer Zusammenkunft über das weitere Vorgehen. „In zwei bis drei Wochen ist der Laden wieder in Ordnung“, sagt Aygül Yildirim entschlossen, die Frau von Özcan Yildirim, vor dessen Haarstudio die Bombe explodierte. Nebenan, bei „Dügün Evi“, einem Fachgeschäft für Hochzeitsartikel, setzen sie schon eine neue Schaufensterscheibe ein. So rasch wie möglich soll der Alltag zurückkehren in die Keupstraße. Ein Alltag, der nicht offenbart, welche Gräben möglicherweise zwischen den Bewohnern in dieser Straße bestehen.

Ihre Nerven werden ohnehin arg strapaziert. An Fronleichnam feuern die Schützen im Schatten der traditionellen Schiffs-Prozession zur Gottestracht Salven auf dem Festplatz nahe der Mülheimer Brücke ab. Die Böller schrecken die Bewohner in der Keupstraße erneut auf. „Mein Vater hat die Salut-Schüsse gehört und dachte sofort, dass wieder was passiert ist“, sagt Aydin Aktas. Der 28-Jährige betreut die Jugendlichen im rund 250 Mitglieder starken Deutsch-Türkischen Kulturverein, der seinen Sitz seit rund 20 Jahren im nahe gelegenen einstigen „Stern“-Kino hat. Eine Moschee ist hier integriert, die renoviert und ausgebaut wird.

Orhan Hargin steht noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse. Unmittelbar vor dem Anschlag war er kurz in dem Frisörgeschäft, vor dem Minuten später der Sprengkörper detonierte. „Die Bombe ist vor dem Kellerfenster explodiert, davor stand noch ein Fahrrad“, entsinnt sich der Angestellte einer Döner-Bude. In den Sekunden der völligen Verwüstung lief er an blutüberströmten Verletzten vorbei. „Ein Mann lag mit brennendem T-Shirt am Boden. Wir haben ihn gelöscht. Er hatte überall Nägel im Arm - es war einfach schrecklich.“

Mit wem man auch spricht - die Ratlosigkeit ist groß, „Wenn man wüsste, was dahinter steckt, wüsste man auch, was man tun muss“, sagt ein Passant und beschwört den Zusammenhalt: „Die Keupstraße ist eine schöne Straße. Und sie kann auch wieder schön werden, wenn man gemeinsam aufräumt. Aber wenn wir nicht zusammenhalten, geht die Straße kaputt.“ Für den Moment zumindest herrscht seit dem Anschlag Einigkeit zwischen den politischen und weltanschaulichen Gruppen, den strenggläubigen Patrioten, die im Kulturverein der Moschee heimisch sind, und den weltoffenen, politisch eher desinteressierten Lebemännern, die ihre freie Zeit lieber beim Okey-Spielen, eine Art Scrabble, in einem Café verbringen. An der Wand des Kulturvereins hängen eine Flagge mit drei Halbmonden, dem Zeichen der „Partei der nationalen Bewegung“ (MHP), und eine Fahne der „Grauen Wölfe“. Diese Organisation gilt als rechtsextrem und gewaltbereit, seit Jahren wird sie vom Verfassungsschutz überwacht. Das charakteristische Merkmal ihrer Mitglieder - einen lang gezogenen Schnurrbart im Stile Dschingis Khans - trägt auch Aydin Aktas. Doch er betont immer wieder: „Wir lehnen jede Form von Gewalt ab. Die Täter sollen gefunden werden und den deutschen Gesetzen entsprechend verurteilt werden.“

Nach wie vor gibt der Anschlag der 20-köpfigen Mordkommission große Rätsel auf. Etliche Versionen der Tat werden durchgespielt. Auch bei den Innenministerien in Berlin und Düsseldorf. Bereits am Freitagmorgen schließen die Parteigenossen Otto Schily und Fritz Behrens ein politisches oder fremdenfeindliches Motiv aus. Woher sie ihre Erkenntnisse beziehen, bleibt indes ihr Geheimnis.

Rainer Wolf, Leiter der politischen Abteilung der Kölner Staatsanwaltschaft, will sich in so einem frühen Stadium der Ermittlungen nicht festlegen. Für ihn ist noch alles offen. Unlängst noch hat die verbotene kurdische Arbeiterorganisation PKK den Waffenstillstand mit der Türkei aufgekündigt.

„Die Waffenruhe endet am 1. Juni“, ließ die Terrorgruppe mitteilen. In der Keupstraße leben Kurden und Türken Tür an Tür. Früher galt die orientalische Einkaufsmeile als PKK-Hochburg, nach Erkenntnissen der Staatsschützer trieben die Kader mit rabiaten Methoden Schutzgelder bei den Geschäftsleuten ein.

Wer sich weigerte, wurde am Telefon bedroht. Des öfteren gerieten die kurdischen Linksextremisten mit den türkischen ultranationalen „Graue Wölfen“ aneinander. Aber das ist fünf bis sechs Jahre her. „Dieser Anschlag ist eigentlich

nicht die Handschrift der PKK. Aber es ist eine der möglichen Denktheorien“, so Wolf.

Auch ein Racheakt im kriminellen Milieu ist nach wie vor nicht auszuschließen. Als er noch auf freiem Fuß war, soll der sehr auf sein Äußeres bedachte türkische Rotlichtpate von Köln, Neco A., häufig den Friseurladen aufgesucht haben, der nun durch den Sprengkörper verwüstet wurde. Jüngst noch soll ein Streit zwischen Geschäftsleuten in diesem Teil der Straße in eine Messerstecherei ausgeartet sein, berichtet ein Insider. Gewalt ist hier jedenfalls keine Seltenheit.

Auch die Drogenfahnder sind in dem Viertel häufiger unterwegs. Im vergangenen Jahr haben sie eine Bande gefasst, die 400 Kilogramm Heroin vom Bosporus an den Rhein geschmuggelt hatte. Nur wenige Meter vom Anschlagsort entfernt haben Kölner Korruptionsfahnder unlängst eine Razzia in einem Lokal durchgeführt. Es geht um angeblich gekaufte Baugenehmigungen, um Drogen und um Schmiergeld für einen SPD-Ratsherrn.

Gerüchte, Spekulationen, nichts Handfestes, meint der politische Chefermittler bei der Kölner Staatsanwaltschaft. Diese Splitterbombe, so glaubt Wolf, sei wahrscheinlich nicht konkret gegen eine Zielperson, sondern „wahllos“ gegen Menschen gerichtet gewesen. „Wer gezielt einen Denkzettel verpassen will, der geht anders vor.“ Womöglich habe ein wirrer Einzeltäter „mit völlig verquasten Vorstellungen“ den Sprengsatz gezündet. Fritz Fuchs, der österreichische Bombenleger, der seinen Hass auf die Menschheit mit wirren rechtsradikalen Thesen versetzte, sei so einer gewesen oder gar der so genannte Unabomber, der erst nach zwei Jahrzehnten von der US-Bundespolizei FBI gefasst werden konnte. Allerdings, schränkt Staatsschützer Wolf gleich ein, fehle bisher das Bekenntnis zum Anschlag. „Solche Leute wollen sich in der Regel mit ihrer Tat produzieren.“

Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) findet am Freitagmittag bei einem Besuch am Tatort markige Worten. „Hart bestraft“ werden sollten die Täter, denn: „Irgendwo hört der Spaß auf. Der Bombenleger wollte ja ganz offensichtlich möglichst viele Menschen treffen.“

Im Café sitzen derweil die Männer, wie an jedem Tag, bei Schwarzem Tee und spielen Okey.

KStA abonnieren