Wie machen die das bloß?Das Phänomen der Berliner Philharmoniker

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Sir Simon Rattle

Sir Simon Rattle

Wie machen die das bloß, fragten sich unlängst die Kritiker der einschlägigen Blätter, als die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Sir Simon Rattle im Februar 2011 gleich fünf Konzerte in London gaben. Der Guardian umschrieb es so: »Dieses Orchester ist ungewöhnlicherweise keine Masse anonymer Musiker, sondern eine Gemeinschaft außergewöhnlicher Individuen, dessen einzigartiges Talent noch nicht durch Überarbeitung oder Zynismus verwaschen oder gezähmt wurde.« Der Observer wiederum titelte kurzerhand: »The world's best orchestra« und betonte, dass nicht zuletzt Sir Simon Rattle, Chefdirigent und künstlerischer Leiter seit 2002, eine neue Art von besitzergreifender britischer Begeisterung für dieses Orchester ausgelöst habe. Doch wird in den Medien ebenso zu Recht auf die offensichtlich völlig verschiedenen Arbeitsbedingungen der Spitzenorchester Londons bzw. der Insel und denen der Berliner Philharmoniker hingewiesen.

In der Tat werden letztere als die Elite behandelt, die sie zweifellos sind: Sie kosten die öffentliche Hand mehr als alle acht Sinfonieorchester Englands zusammen. Anders gesagt: Den britischen Musikern mangelt es nicht an Talent, sondern an den Bedingungen, dieses voll zum Ausdruck kommen zu lassen.

Dieses Orchester ist eine Gemeinschaft außergewöhnlicher Individuen

Und dennoch scheint in dem mit Superlativen überhäuften Spiel »der Berliner« ein Geheimnis verborgen. Selbst Rattle kann es nicht erklären, deutet aber darauf hin, dass das Orchester wohl sein Personal wechsele, doch der Körper derselbe bleibe. Der 57-jährige Brite fühlt, dass er »Karajans Orchester« dirigiert, der über die Spanne von 35 Jahren (nicht nur am Pult) das Sagen hatte, für etwa 200 Millionen verkaufte Platten sorgte und einen stromlinienartigen, rhythmisch pulsierenden Klang etablierte. Gefolgt vom kürzlich verstorbenen Claudio Abbado, der eine neue Transparenz sowie eine kollegiale »Liebe« zum Orchester entwickelte. Rattle vereint gewissermaßen beide Stile, er widmet sich dem Detail mit der Präzision eines Lasers, um gleichzeitig nach jener gleißenden Karajanschen Klangqualität zu streben. Doch hat sich viel verändert, seit Rattle dort ist. Peu à peu hat er seine Beziehung zu diesem hochgradig unabhängigen Ensemble konsolidiert, der Altersdurchschnitt der Musiker ist auf fast jugendliche 38 Jahre abgesunken, der internationale Charakter ist – mit Ausnahme der Zwischenkriegsjahre – so vielfältig wie nie zuvor: Nahezu die Hälfte der Musiker stammt aus dem Ausland und repräsentiert mittlerweile mehr als 20 Nationen – allein bei der Anzahl an Musikerinnen herrscht sicherlich noch Nachholbedarf. Für den typischen Streicherklang – das Herz des Orchesters – sind insbesondere drei Konzertmeister verantwortlich, von denen jeder seinen speziellen Funken und Stil einbringt. Was indes alle Musiker qualitativ verbindet, ist augen- und ohrenscheinlich ungehemmte Leidenschaft, Intuition und Sinnlichkeit.

Auch für den 1953 in Graz geborenen Komponisten Georg Friedrich Haas steht der sinnliche Reiz des lebendigen Instrumentalklangs im Mittelpunkt seines Schaffens: »Ich habe kein Vertrauen in Beziehungen, die sich nur durch den Notentext und nicht durch die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung erschließen. Ich hoffe, dass sich in meiner Musik die Intuition und die rationale Kontrolle die Waage halten.« Schon während seines Studiums in Graz und Wien hat sich Haas mit dem Entwurf mikrotonaler Systeme auseinandergesetzt und dafür auch Werke von Komponisten wie etwa Luigi Nono eingehend beleuchtet. Nach anfänglichen Erfahrungen mit Vierteltönen erforscht er seit Mitte der 80er-Jahre den Klang als geschlossene Einheit von schillernden »Zwischentönen«.

Da ihm die wohltemperierte Tonskala keine »Gesamtheit der musikalisch sinnvollen verwendbaren Tonhöhen« und somit keine ausreichenden Ausdrucksmöglichkeiten bietet, spielen für ihn Obertonharmonien und die Überlagerung von akustischen Schwebungen eine zentrale Rolle. Sein Werk »dark dreams« wurde übrigens von den Berliner Philharmonikern und der Carnegie Hall in Auftrag gegeben und erlebt seine Uraufführung am 20. Februar des Jahres in der Berliner Philharmonie. Die Frage, wer diese spielt, erübrigt sich wohl.

06.03.2014 Donnerstag 20:00

Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle Dirigent Johannes Brahms Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 (1883) Georg Friedrich Haas dark dreams (2013) für Orchester Claude Debussy

La mer L 109 (1903–05) Drei sinfonische Skizzen für Orchester € 147,– 126,– 105,– 72,– 42,– 25,– | Z: € 90,–

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