„Verstehen es nicht mehr“NRW-Wirtschaft übt scharfe Kritik an Corona-Beschlüssen

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Die leere Schildergasse in Köln, aufgenommen am 18. März 2020

Die leere Schildergasse in Köln, aufgenommen am 18. März 2020

Köln/Düsseldorf – Die NRW-Wirtschaft hat mit Enttäuschung und scharfer Kritik auf die Beschlüsse des Corona-Gipfels von Bund und Ländern reagiert. „Wir stehen nach mehr als vier Monaten mit fast leeren Händen da und werden wieder auf das nächste Treffen vertröstet, anstatt den niedrigen Risiken in unseren Betrieben Rechnung zu tragen“, sagte Bernd Niemeier, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) in NRW.

Restaurants, Kneipen oder Hotels seien erneut nicht in eine Öffnungsstrategie eingebunden worden – während Indoor-Sport, Konzerte und Handel nun allesamt eine Perspektive hätten. „Wir verstehen es nicht mehr.“ Es gebe kein Gesamtkonzept und keine Aussicht auf einen Restart der Branche. Dass Biergärten und Terrassen demnächst wieder öffnen dürften, reiche nicht aus.

Mehr staatliche Hilfe gefordert

Der Dehoga NRW macht Versäumnisse beim Test- und Impfgeschehen für die anhaltende Perspektivlosigkeit verantwortlich. „In Anbetracht einer existenziellen Betroffenheit von Zehntausenden von Gastronomen und Hoteliers und Hunderttausenden Beschäftigten erwarten wir uns mehr Bekämpfung der Pandemie als deren bloße Verwaltung und die Ankündigung von Maßnahmen, die in Bürokratie ertrinken“, sagte Niemeier. „All diese Punkte hätten schon längst in eine Gesamtstrategie gehört, weil wir absehbar mit dem Virus werden leben müssen.“

Der Dehoga-Präsident forderte außerdem eine Ausweitung der staatlichen Hilfen, konkret einen „angemessenen Unternehmerlohn im Rahmen der Überbrückungshilfe III und die Berücksichtigung im Härtefallfonds“.

Handel spricht von Katastrophe

Der Handelsverband Deutschland (HDE) nannte die Ergebnisse des Bund-Länder-Gipfels derweil eine „Katastrophe“ für die Branche. „Faktisch wird der Lockdown damit trotz aller theoretischen Perspektiven für die große Mehrheit der Nicht-Lebensmittelhändler bis Ende März verlängert“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Die Verlängerung des Lockdown würde die geschlossenen Handelsunternehmen nach Verbandsschätzungen rund zehn Milliarden Euro Umsatz kosten.

„Ende März sind viele Händler dann seit mehr als 100 Tagen geschlossen. Das ist nicht mehr zu verkraften. Die Politik nimmt ihre Verantwortung für die zwangsgeschlossenen Händler nicht wahr. Denn gleichzeitig kommen staatliche Hilfszahlungen nur schleppend und spärlich an.“ Die Infektionsgefahr im Handel sei niedrig, das zeige auch die Einschätzung des Robert-Koch-Instituts.

Click-and-Meet nützt kaum etwas

„Es gibt keine vernünftigen Argumente mehr, den Handel geschlossen zu halten“, ergänzte eine Sprecherin des Handelsverbands NRW. Auch die Ungleichbehandlung der Branchen – Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte zählen künftig bundesweit zum Einzelhandel des täglichen Bedarfs gezählt und dürfen unter Auflagen öffnen – sei problematisch. „Es ist schwer nachvollziehbar, warum Bücher erlaubt sind, aber Schuhe nicht.“ Auch die Option, künftig ein sogenanntes „Click-and-Meet“, also einen Einkauf nach Terminabsprache mit einem Kunden pro 40 Quadratmeter zu ermöglichen, sei nur für wenige Händler hilfreich. Juweliere, Küchenstudios und andere beratungsintensive Branchen könnten davon durchaus profitieren. Andere wohl kaum: „Da dürften die Personalbetriebskosten oft höher sein als die Umsätze.“

Die Kölner Deko-Kette Butlers will das Angebot dennoch nutzen. In Trier testet der Unternehmen „Click-and-Meet“ bereit, nun soll das Konzept auch bundesweit verfügbar werden. „Wir sind nicht glücklich mit der Entscheidung der Regierung, es den Kunden und Händlern so schwer zu machen“, sagte Geschäftsführer Wilhelm Josten. „Wir sind jedoch bestens vorbereitet und freuen uns darauf, ab Montag unsere Filialen wieder öffnen zu dürfen.“ Kunden könnten ab sofort online oder direkt in der Filiale ihren Einkaufs-Termin vereinbaren. Ähnlich wie beim Friseur könne man „Click-and-Meet“ auch spontan nutzen, wenn gerade nicht zu viele Kunden in einem Laden seien.

„Fixiertheit auf Inzidenzwerte“

Kölns IHK-Präsidentin Nicole Grünewald kommentiert die jüngste Vereinbarung: „Dass sich Bund und Länder auf konkretere Öffnungsschritte geeinigt haben, ist erst einmal gut.“ Allerdings fehlten Perspektiven für einige betroffene Branchen, wie die Innengastronomie, Tourismus- und Veranstaltungswirtschaft und Teile des Einzelhandels, denn zum Beispiel „Terminshopping“ sei in den seltensten Fällen kostendeckend. „Wir erwarten von der Politik, dass es mit den Impfungen nun wesentlich schneller voran geht. Bis das der Fall ist, brauchen unsere Unternehmen den Zugang zu kostenfreien Tests für ihre Mitarbeitenden und branchenübergreifend die Möglichkeit, ihre erarbeiteten Hygienekonzepte auch umzusetzen“, sagte Grünewald.

Handwerks-Präsident Hans Peter Wollseifer sagte derweil: „Die Bund-Länder-Beschlüsse bringen für viele unserer von Schließungen betroffenen Betriebe nicht die erhoffte Öffnungsoption schon in nächster Zeit.“ Bei dem Treffen sei „deutlich mehr drin gewesen“. Um ein Firmensterben „auf breiter Front“ zu verhindern, müsse wirtschaftliches Leben schnellstens wieder ermöglicht werden, sofern dies epidemiologisch vertretbar ist. Wollseifer kritisierte die „Fixiertheit allein auf Inzidenzwerte“, die fehlende Berücksichtigung der Hygienekonzepte in den Betrieben und das schleppende Impftempo.

Der NRW-Arbeitgeberverband anerkennt die Entscheidungen. „Die Beschlüsse der Bund-Länder-Runde sind der dringend erforderliche Einstieg in ein zielgenaueres und differenziertes Vorgehen. Es ist anzuerkennen, dass die Politik nun doch erste Öffnungsperspektiven für wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben aufgezeigt hat“, sagte NRW-Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff. Insbesondere sei wichtig, dass sich Bund und Länder von der bisher zu starren Fixierung auf die Inzidenzwerte 35 und 50 gelöst habe. Damit trügen sie jetzt den erzielten Fortschritten bei der Impfung der besonders gefährdeten Gruppen Rechnung.

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Eine Beschleunigung der Impfungen und eine intelligente Teststrategie forderte auch der Deutsche Reiseverband (DRV). „Es ist inakzeptabel, dass wir aufgrund des Fehlens von Tests und des viel zu langsamen Impfprozesses gezwungen werden, weitere Monate im Lockdown zu verharren“, sagte DRV-Präsident Norbert Fiebig den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Fiebig fordert die Politik auf, ihre Appelle zum Reiseverzicht zu beenden. „Organisierte Reisen sind nachweislich nicht Treiber der Pandemie – das sagen nicht wir, das sagt das RKI in einer aktuellen Studie.“

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zeigte sich hingegen zufrieden mit den Ergebnissen der Bund-Länder-Beratungen. „Für die Wirtschaft wurde viel erreicht“, sagte Altmaier RTL/ntv. So werde es bereits im März erste wichtige Öffnungsschritte geben. Zudem habe sich die Runde von der umstrittenen 35er-Inzidenz verabschiedet. „Die Inzidenz von 35, die sehr streng war, die viele verärgert und aufgeregt hat, die ist nicht mehr für die Öffnung Voraussetzung“, betonte der Minister. (mit dpa)

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