Chef der Kassenärztlichen Vereinigung„Es kann nicht immer gerecht zugehen“

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Bergmann

Dr. Frank Bergmann, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein

  • Frank Bergmann spricht im Interview über Schwierigkeiten bei der Impfreihenfolge.
  • Wann es demnächst neue Dosen der mRNA-Vakzine in den Praxen gibt.
  • Und warum die indische Corona-Mutante die gute Entwicklung bremsen kann.

Herr Bergmann, das Impftempo hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Wo stehen wir in Köln und der Region? Frank Bergmann: Insgesamt haben mehr als 36 Prozent in Nordrhein  bereits eine Erst-Impfung erhalten. Allein in Köln sind bereits rund 500.000 Impfungen (Erst und Zweitimpfungen) durchgeführt worden. Das sind erstmal gute Zahlen. Es heißt aber auf der anderen Seite auch, dass weit mehr als die Hälfte der Bürger in Nordrhein noch nicht geimpft sind. Aber wir sind ein gutes Stück vorangekommen, seit dem Einbinden der niedergelassenen Ärzte wurde ein Turbo gezündet.

Wagen Sie schon eine Prognose, wann wir hier über den Berg sind?

Wenn die Impfstofflieferungen in den kommenden Wochen so erfolgen wie angekündigt, dann werden wir im Verlauf des Juli 80 Prozent Erst-Impfungen verabreicht haben – immer vorausgesetzt, dass die Impfbereitschaft auch entsprechend gegeben ist. Im Herbst könnten wir dann schon in den Bereich der Herdenimmunität kommen – wenn Virus-Mutanten das nicht noch aushebeln.

Gilt das etwa für die indische Variante?

Wir wissen noch nicht genug darüber. Bislang haben die hierzulande eingesetzten Impfstoffe aber grundsätzlich auch gegen die Mutanten einen guten Schutz geliefert. Wie sich dies in den kommenden Monaten aber entwickeln wird, lässt sich jetzt noch nicht  prognostizieren.

Zur Person

Frank Bergmann, Jg. 1957,  ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung KV  Nordrhein. Er ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Aachen und seit 2001  Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte sowie Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.

Wie viele Praxen sind denn mittlerweile im KV-Bezirk an die Impfkette angeschlossen?

Wir sind bei mehr als 90 Prozent der Hausarztpraxen, die sich am Impfen beteiligen und bei 20 Prozent der Facharzt-Praxen, das  sind  mehr als  5000 Praxen im Rheinland. Das ist gut, aber es gibt noch Luft nach oben. Voraussetzung ist natürlich, dass genug Impfstoff verfügbar ist.

Anfangs wurde lange über Schwierigkeiten bei Lagerung und Kühlung der Vakzine gesprochen. Bekommen Sie dazu noch Rückmeldungen aus der Ärzteschaft?

Dadurch, dass die Vorgaben nicht mehr ganz so streng sind wie noch im Januar gedacht, haben wir zuletzt keine Probleme mehr aus den Praxen gehört. Die größten Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass die Priorisierung aufgehoben ist und das Intervall zwischen den Impfungen verlängert wurde. Das hat für Unruhe gesorgt, jetzt laufen in den Praxen erst recht die Telefone heiß. Die Administration neben dem Regelbetrieb ist die derzeit größte Herausforderung für die Praxis-Teams.

Manche melden sich an mehreren Stellen an. Wie viele erscheinen nicht zum Termin?

Die Quote liegt für ganz Nordrhein bei Terminbuchungen über das KV-System bei rund sechs  Prozent. Das ist vergleichsweise gering.

Welches Vorgehen empfehlen Sie denn jetzt, um schnell an einen Termin mit mRNA zu kommen?

Die Praxen werden ab Juni wesentlich mehr Impfstoffe erhalten und können dann noch breiter impfen – nicht nur mit Biontech, sondern auch mit dem gerade für Ältere zu empfehlenden Impfstoff von Astrazeneca. Auch Johnson & Johnson kommt jetzt in die Praxen. Für die Impfzentren können weiterhin Menschen über 70 und 80 sowie etwa Kontaktpersonen von Schwangeren und Pflegepatienten einen Termin buchen.

Aber wenn man sich so umhört, ist es schon erstaunlich, wer schon alles mit Biontech geimpft ist ...

Astrazeneca und Johnson & Johnson sind ja bereits freigegeben,  beides  sehr gute Impfstoffe. An anderer Stelle war vielleicht noch Impfstoff übrig. Und man muss sich vor Augen führen, dass es bei der Impfung von 80 Millionen Menschen keine vollkommene Gerechtigkeit gibt, die jeden Einzelnen zufrieden stellt.

Einige Unternehmensverbände haben dafür plädiert, dass die Betriebsärzte zu Lasten der Hausärzte impfen sollen. Ein richtiger Ansatz?

Ich finde das dann gut, wenn die Betriebsärzte im Juni einbezogen werden. Je mehr Ärzte an den Impfungen beteiligt sind, desto besser.  Entscheidend aber ist auch hier: Es muss genug Impfstoff geben.

Von welchen Größenordnungen sprechen wir ab Juni?

Wir werden in der kommenden Woche deutschlandweit 2,6 Millionen Impfdosen für die Praxen erhalten, davon 1,6 Millionen Dosen Biontech und rund eine Million Dosen Astrazeneca. Ab Juni soll sich die wöchentliche Liefermenge von Biontech fast verdoppeln – auf wöchentlich fünf Millionen Dosen.

Sind die Impfzentren dann bald schon obsolet?

Ich bin da noch sehr zurückhaltend, denn die Zahl der Menschen, die noch geimpft werden müssen, ist riesengroß. Und es bleibt die Frage, wie es Ende des Jahres weitergeht. Ich bin skeptisch, dass dann schon alles vorbei ist. Mit Blick auf mögliche Mutationen müssten dann erneut die Heime geimpft werden und die Bürger. Das dürfte ohne Impfzentren schwierig werden.

Eine Pandemie wie diese ist in der jüngeren Geschichte ohne Beispiel. Vor welche Herausforderungen hat das die KV gestellt?

Wir sind nach Karneval 2020 wirklich von null auf hundert gestartet und mussten urplötzlich Funktionen übernehmen, die so zuvor nie für eine KV vorgesehen waren. Weder Land noch Bund konnten uns  Schutzmaterial liefern. Wir mussten dann über Nacht selbst Schutzmaterial in der ganzen Welt auftreiben und an die Praxen verteilen – das machen wir bis heute. Das Zweite war aus dem Stand die Organisation der Testzentren im Land zu stemmen, auch an den Flughäfen. Unsere Vertragsärzte sind auch an den Wochenenden eingesprungen. Und seit Ende Dezember organisieren wir nun die Impfungen der Bevölkerung – in der Summe für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine immense Herausforderung.

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Wie bewerten Sie insgesamt das Impfmanagement in Deutschland?

Was wir gelernt haben ist, dass wir besser aufgestellt sein müssen  – insbesondere  in der Bereitstellung von Schutzmaterialien. Sie müssen jederzeit abrufbar sein, dafür brauchen wir eine Produktion im eigenen Land, um die Abhängigkeit vom Import  zu reduzieren. Zudem sehen wir etwa an den USA, dass man dort risikofreudiger bei der Bestellung von Impfstoff war. Auch die Überlegungen für einen digitalen Impfpass hätten früher erfolgen können. Und wir müssen uns jetzt dringend Gedanken machen, wie es im Herbst und Winter weitergeht – vor allem  bei den Kindern und Jugendlichen. Eltern werden kein weiteres Jahr zwischen Homeschooling, Homeoffice und Kita-Schließung  durchmachen können. Mit Blick auf die weltweite Situation ist es hierzulande aber  gut gelaufen.

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