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Durch Daten Krebs verhindernChancen und Risiken digitaler Innovationen in der Medizin

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Boris Otto (l) und André Nemat

Boris Otto (l) und André Nemat

Köln – Der Mensch als größte Datenplattform. Apps, die so ziemlich alles checken. „Digitale Zwillinge“ aus der Summe aller Gesundheitsdaten, die über einen Menschen erhoben werden können. Was sind die Chancen, die Risiken und Nebenwirkungen dieser ungeheuren Schatzkammer neuer digitaler Möglichkeiten in der Medizin? Wem gehören diese Daten? Darüber diskutierten Experten am Dienstagabend beim „Health4tomorrow“-Abend im Rahmen des „Open Network Healthcare“ im vollbesetzten studio dumont. Sechs Start-ups stellten ihre schon ganz konkreten Innovationen vor.  

Der Druck, sich mit dieser Zukunft heute auseinanderzusetzen, käme aus den digitalen Lebensgewohnheiten der Konsumenten, betonte Chirurg Dr. André Nemat, Gründer des Instituts für Digitale Transformation Healthcare (idigiT) an der Universität Witten/Herdecke, das sich seit 2017 für eine humanzentrierte Digitalisierung des Gesundheitswesens einsetzt. „Jeder Arztbesuch ist schon das Einholen einer Zweitmeinung. Jede Woche kommen mehr Patienten mit ihrem iPhone, Uhren, Apps und Armbändern, die Vitaldaten messen. Wir Ärzte sind selber Anwender, ohne die Risiken zu kennen“, meinte er.

Aktives Mitgestalten notwendig

Sein leidenschaftlicher Appell: „Wir müssen die Zukunft der Medizin mitgestalten und sie nicht den Googles, Facebooks oder Amazons überlassen.“ Im Durchschnitt habe jeder Bundesbürger 93 Apps auf seinem Handy, veranschaulichte Prof. Boris Otto von der TU Dortmund, Geschäftsführer des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik, die Dimension der Entwicklung. Der Ingenieur verknüpfte sie mit der Forderung nach mehr Verwendungstransparenz und Datensouveränität der Bürger: „Wir müssen wissen, wer was mit diesen Daten macht.“

Digital-Ethik-Expertin Dr. Sarah J. Becker vom idigiT nannte als ein Beispiel für sehr persönliche und individuelle Daten die Kinderwunsch-App, mit der 10 Millionen Frauen weltweit Daten über ihren eigenen Körper sammeln: Menstruationsprotokolle, Alkoholkonsum, wann sie Sex haben. In der Summe ein riesiger Datenfundus. Aktuell lägen Daten im Gesundheitsbereich in Deutschland nur in Silos vor und würden nicht verknüpft, erklärte sie. Dies würde nun erstmals die Elektronische Gesundheitskarte ändern. Die Gretchenfrage, ob die Menschen einen „digitalen Zwilling“ wollen, stellte Dr. Martin Kiel, Direktor des Thinktanks „the black frame“. Angeblich sagen vier von fünf Befragten Ja dazu. „Wir spiegeln uns wieder in unseren Apps“, erklärte der Kommunikationsforscher, warnte zugleich davor, die Summe aller dort hinterlegten Daten für das 1 zu 1 Abbild des Menschen zu halten. „Es sind Inszenierungen, nicht nur bei Instagram.“

Herzinfarkte und Krebs verhindern

Widersprüche im Umgang mit Daten durch die Nutzer sieht auch Dr. Becker: „Wenn ich etwas habe, oder ein Angehöriger, will ich alles an Informationen teilen, bei Facebook ist es mir unheimlich. Da klafft eine Lücke.“ Die ärztlichen Experten beflügelt vor allem die Vision, durch smart verknüpfte Daten eines Tages Krankheiten wie Herzinfarkt und Krebs verhindern zu können, weil wir wissen, an welchen Stellschrauben wir je nach persönlichem Profil drehen müssen. „Mit der Einführung der elektronischen Patientenakte 2021 werden die Menschen erstmals einen Mehrwert in der Zusammenführung der Daten sehen“, prognostiziert Dr. Nemat.

Die cleveren Start-up-Ideen an diesem Abend zeigten, was schon heute Wirklichkeit ist. Mit der Software von „motognosis“, angeschlossen an ein Handy mit 3-D-Kamera, können Parkinson- und Multiple-Sklerose-Patienten zuhause eigenständig Bewegungen so zuverlässig wie in der Klinik aufzeichnen und analysieren. Die Plattform der Kölner Softwareentwickler Healex ermöglicht, Daten aus Forschung und Versorgung strukturiert zu sammeln und zusammenzubringen. „Noch werden sie jedes Mal, wenn Sie zum Arzt gehen, neu geboren“, klagte Gründer Stefan Wiesner. „Es vergeht unendlich viel Zeit, bevor Erkenntnisse aus der Forschung in die Patientenversorgung gelangen.“

VR-Simulatoren helfen

Das Düsseldorfer Start-up „Weltenmacher“ entwickelt VR-Simulatoren für die Medizin. Patienten setzen eine Virtual-Reality-Brille auf und üben so etwa die sehr viel bequemere, günstigere Heimdialyse. „Der älteste Nutzer war 87, der jüngste ein Sechsjähriger“, berichtete Gründer Jonathan Natzel. „So angelernte Patienten machen weniger Fehler als die mit 1-zu-1-Training durch Pflegepersonal. Sie fühlen sich auch sicherer. Die digitale Maschine sagt: Mach das nochmal. Sie hat Geduld, das stresst mich nicht.“ Das Start-up „Rimasys“ vom BioCampus Cologne präsentierte einen Operationssimulator für angehende Chirurgen, einschließlich Gelenkersatz aus dem 3-D-Drucker und Extremsituationen im OP. „Dieses Training ist mindestens so viel wert wie 10 Operationen in der Realität“, lobte Prof. Bertil Bouillon, Direktor der Klinik für Orthopädie am Klinikum Köln-Merheim, das System.

Die ideale Patientenreise der Zukunft begleitet „m.Doc“. Die App des Kölner Software-Entwicklers bündelt alle Infos rund um einen Krankenhaus- oder Reha-Aufenthalt, von Therapie- und Speiseplan bis zu Videos, was im MRT passiert. 2016 gestartet, beschäftigt das Kölner Start-up schon 45 Mitarbeiter, die Uniklinik Aachen zählt zu den ersten Kunden. Digital zugeschaltet aus Boston wurde Christian Contarino von Computational Life. Die US-Tüftler bauen den menschlichen Körper mit all seinen Funktionen und Stoffwechselvorgängen nach, um so vor allem auch in der Arzneimittelforschung neue Wirkstoffe schneller ausprobieren zu können.

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Der digitale Zwilling zeigt ein Herzversagen, die Atmung in verschiedenen Körperlagen. Nächstes Jahr wollen die Entwickler eine virtuelle Bevölkerung erschaffen, nach Alter, Geschlecht, Gewicht, Größe variiert. Genügend Stoff also für eine Fortsetzung der Open Network Health-Reihe. Die nächste Veranstaltung, die Wissenschaft, Gesundheitswirtschaft und Start-ups zusammenbringen will, ist geplant für nächstes Frühjahr.

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