Kommentar zu Ankerkraut und NestléSeele und Überzeugung gegen Geld verkauft?

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Ankerkraut VE 130422

Ankerkraut-Gewürze in einem deutschen Supermarkt.

Von außen betrachtet, könnten sie kaum unterschiedlicher sein.

Da ist einmal Ankerkraut, das Start-up, dem ganz Deutschland nach seiner Teilnahme bei der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ beim Wachsen zuschauen konnte. Ankerkraut wollte den Gewürzmarkt revolutionieren, der bis dato vor allem aus wortwörtlich angestaubten Plastikbecherbatterien im Supermarkt bestand. Hochwertige und nachhaltig angebaute Zutaten, die vollständig auf den Etiketten der recyclebaren Gläser samt Korken aus Überresten der Weinproduktion deklariert seien, aus einer transparenten Lieferkette stammten und zunehmend aus ökologischem Anbau ohne Gentechnik, synthetische Pestizide oder Palmöl auskommen sollten. Auf der anderen Seite der große, weltweit agierende Lebensmittelkonzern, der von einem Skandal in den nächsten stolpert.

Die Vorwürfe gegen Nestlé reichen von der Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern in wirtschaftlich schwachen Ländern über Regenwaldzerstörung, Tierversuche, illegale Preisabsprachen bis hin zu dem Geschäft mit dem Wasser, was Kritikerinnen und Kritikern zufolge zu absinkenden Grundwasserspiegeln führe. Vorwürfe, die schwer wiegen und das in Logoform gegossene Narrativ eines Unternehmens wie eine Vogelmutter, die ihre Küken mit Futter versorgt, beinahe ironisch wirken lassen.

Eigentliches Ziel: Börsengang

Wie passen das authentische, nachhaltige Start-up und der große, kapitalistische Weltkonzern zusammen? Bei den Themen Werte, Nachhaltigkeit und Überzeugung jedenfalls tun sie es nicht. Als Unternehmen nutzen beide aber den freien Markt, um ihre Produkte zu verkaufen und Geld damit zu verdienen. Dementsprechend kann Ankerkraut auch nicht frei vom marktwirtschaftlichen Grundgedanken sein. Im Sommer des Jahres 2020 veräußerte das Start-up bereits 20 Prozent der Unternehmensanteile an den Investor EMZ. Die Anteile von Stefan und Anne Lemcke sanken auf 51 Prozent. Damals sagte Stefan Lemcke, ein Unternehmen werde besser, wenn viele Menschen mitreden könnten – sein Ziel war der Börsengang. Und ist das nicht auch im Wesentlichen das Ziel von Gründerinnen und Gründern? Eine Marke aufbauen und langfristig damit Geld zu verdienen? Das kann durch langsames, organisches Wachstum geschehen – oder man verkauft eben kurzerhand an den größten Lebensmittelkonzern der Welt.

Die Veräußerung ist also keinesfalls überraschend, auch wenn man sich durchaus die Frage stellen muss, warum ausgerechnet Nestlé? Der Konzern selbst jedenfalls versucht, sich grüner zu geben, denn das kommt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an: Von Maggi gibt es eine Linie mit Bio-Inhaltsstoffen oder Produkte, die aus krummem Gemüse hergestellt wurden, das im Supermarkt vermutlich nicht verkauft worden wäre; vegane und vegetarische Alternativen. Auf der anderen Seite verkauft Nestlé aber auch hochpreisigen Kaffee aus Alukapseln, die bei fachgerechter Entsorgung recyclebar sein sollen, aber womöglich doch im Hausmüll landen. Mit Nachhaltigkeit hat das wenig zu tun – und eigentlich hätte das für Ankerkraut eine rote Linie sein müssen.

Hass und Beleidigungen aus dem Netz

Der Shitstorm, den Nestlé vermutlich gewöhnt und für Ankerkraut neu sein dürfte, kam prompt: Influencerinnen und Influencer kündigten in den sozialen Netzwerken an, ihre Zusammenarbeit mit Ankerkraut aufzukündigen. Zahllose Nutzerinnen und Nutzer äußerten sich wütend und enttäuscht, die Ankerkraut-Gründer hätten ihre Seele gegen Geld verkauft. Die beiden Gründer äußerten sich noch am Mittwoch gegenüber der dpa, dass die Kritik weder an ihnen noch an den Beschäftigten vorbeigehe, dass sie aber definitiv keinen Hass und Beleidigungen akzeptierten.

Im Netz folgten Boykottaufrufe, so wie einst bei der folgenschweren Übernahme von Biolimonaden-Hersteller Bionade durch den Lebensmittelkonzern Dr. Oetker oder bei der Übernahme von Naturkosmetik-Hersteller Logocos durch Konventionelle-Kosmetik-Hersteller L’Oréal – an dem Nestlé übrigens fast 30 Prozent hält.

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Wie lange Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich am Boykott festhalten, bleibt abzuwarten. Wer nun auf den direkten Ankerkraut-Konkurrenten Just Spices umschwenken will, dem sei in Erinnerung gerufen, dass erst vergangenes Jahr der US-Lebensmittelkonzern Kraft Heinz 85 Prozent der Anteile des Düsseldorfer Start-ups übernommen hat. Das Unternehmen sieht sich wie auch Procter & Gamble, Unilever, Danone, Mars, Johnson & Johnson und viele andere mit ähnlicher Kritik konfrontiert wie Nestlé. 

Ein großer Anteil der Produkte im Supermarkt stammen von diesen und weiteren großen Unternehmen. Wer Ankerkraut boykottieren will, hat durchaus guten Grund dazu – sollte aber überprüfen, ob der eigene Einkaufswagen auch dem eigenen moralischen Zeigefinger gerecht wird.

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