StudieGespartes Vermögen reicht im Schnitt für rund zwei Jahre aus

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Berlin – Was haben die Leute nur? Die Wirtschaft wächst wie lange nicht; nie seit der Wiedervereinigung war das Risiko, den Job zu verlieren, so gering wie heute; Löhne und Renten steigen spürbar; und die Aussichten für das kommende Jahr sind gut, um nicht zu sagen: rosig.

Trotzdem plagt zig Millionen Menschen in Deutschland das Gefühl tiefer Unsicherheit. In einer Erhebung vom Frühjahr ermittelten Wissenschaftler um die Soziologen Richard Hilmer und Bettina Kohlrausch, dass sich 55 Prozent der Menschen in Deutschland Sorgen die Zukunft ihrer Kinder machen. Etwa die Hälfte der 5000 Befragten bangt um die eigene Zukunft und die Altersversorgung. Ebenso viele fürchten eine weitere soziale Spaltung der Gesellschaft. Also nochmal: Was haben die Leute bloß?

Die Antwort ist verblüffend einfach: Sie haben Recht. Das zumindest legt eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung nahe, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Um dem Wirklichkeitsgehalt der verbreiteten Sorgen auf den Grund zu gehen, stellte die Autorin Anita Tiefensee ein Gedankenexperiment an: Wie lange würden die Rücklagen und Vermögenswerte der Haushalte in Deutschland ausreichen, um nach Wegfall aller monatlichen Einkünfte (einschließlich Sozialtransfers) den bisherigen Lebensstandard aufrecht erhalten zu können? Das Ergebnis, das die Wissenschaftlerin auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2012 errechnete, lautet: Im Mittel wäre das Vermögen in Form von Spareinlagen, Wertpapieren und Immobilien nach einem Jahr und elf Monaten aufgebraucht.

Enorme Unterschiede – auch zwischen Ost und West

Allerdings sind die Unterschiede enorm. Während die 30 Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Vermögenswerten allenfalls einige Wochen von ihren Besitztümern zehren könnten, wären die reichsten zehn Prozent mindestens 13 Jahre lang dazu imstande. Den obersten fünf Prozent gelänge dies sogar über mehr als 21 Jahre hinweg. Und das, obwohl die Konsumausgaben der wohlhabenden Haushalte zwischen 2300 und 2600 Euro monatlich deutlich über den Ausgaben der unteren 30 Prozent lagen, die zwischen 1300 und 1700 Euro für Wohnen, Essen, Urlaub und Güter des täglichen Bedarfs ausgaben.

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Einen weiteren gewichtigen Unterschied ermittelte die Studienautorin zwischen Ost- und Westdeutschland: Während im Osten das Haushaltsvermögen im Mittel gerade zehn Monate lang reichen würde, um wie bisher über die Runden zu kommen, sind es im Westen zwei Jahre und fünf Monate. Betroffen ist auch die Mittelschicht. Das Zehntel der Haushalte mit den vierthöchsten Vermögenswerten käme im Osten nur ein Jahr und acht Monate zurecht, im Westen sind es dagegen vier Jahre und zwei Monate. Für das viertärmste Zehntel ergeben sich Zeiträume von vier Monaten im Osten und 13 Monaten im Westen. „Aus den Daten wird deutlich, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung über ein Vermögen verfügt, dass zur Sicherung des Lebensstandards nur für kurze Zeit ausreichte“, kommentiert die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Anke Hassel.

Dass hieraus unterschiedliche Einschätzungen der eigenen Absicherung erwachsen, liegt auf der Hand: Vielleicht macht Besitz nicht glücklich, aber er beruhigt ungemein. Offenbar ist die sehr ungleiche Verteilung des Vermögens in Deutschland eine wesentliche Ursache dafür, dass sich weite Teile der Bevölkerung trotz guter Wirtschaftslage um die eigene Zukunft und die ihrer Kinder Sorgen machen.

Untere Mittelschicht sollte Vermögen bilden können

Vor diesem Hintergrund regen die WSI-Wissenschaftler an, Angehörigen der unteren Mittelschicht die Bildung eigenen Vermögens zu ermöglichen. Neben einer Stärkung der Tarifbindung, die höhere Arbeitseinkommen gewährleistet, und dem weiteren Ausbau der Kinderbetreuung, um Frauen und vor allem Alleinerziehenden die Aufnahme einer Berufstätigkeit zu erleichtern, schlägt Tiefensee höhere Schonvermögen vor, die Langzeitarbeitslose beim Empfang von Hartz IV behalten dürfen.

Nachholbedarf bei der Vermögensbildung sieht Hassel vor allem im Immobilienbereich: In anderen EU-Ländern verfügten auch viele Haushalte mit geringen Einkommen über selbstgenutztes Wohneigentum, in Deutschland dagegen nur sehr wenige. Denkbar sei eine gezielte staatliche Wohneigentums-Förderung für Mittelschichthaushalte. WSI-Direktorin Hassel: „Es wäre wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch wünschenswert, wenn jeder sich ein gewisses Vermögen aufbauen könnte.“

Die anfangs zitierte Umfrage stützt diese These: Danach befördert materielle Unsicherheit das Aufkommen populistischer Parteien wesentlich. Mehr als zwei Drittel der befragten AfD-Anhänger gaben an, sich um die persönliche Zukunft zu sorgen. In der Gesamtbevölkerung waren es nur 46 Prozent.

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