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Kommentar

Mehr Freundlichkeit
„Auch ich bin viel zu oft ein Arsch gewesen“

Ein Kommentar von
5 min
Warum nicht einfach viel öfter grundlos freundlich sein?

Warum nicht einfach viel öfter grundlos freundlich sein?

Es gibt viele Ursachen, warum man auf einmal zu einem netten Menschen wird. Der Ruhestand gehört dazu und die Einsicht in unwiderlegbare Wahrheiten.

Ich bin der Überzeugung, dass die meisten unausstehlichen Menschen nicht mit Absicht unausstehlich sind. Es ist nur ihre Art, ein Schutzschild gegen diese Welt aufzubauen. Ich nehme mich davon nicht aus, bin auch viel zu oft ein Arsch gewesen. Zu viel Reue sollte dafür allerdings niemand erwarten, denn im Umgang mit bedrohlichen Phänomenen wie Ämtern, Banken, Beutelschneidern, Nachbarn, Bahnen, Kollegen und allen Autofahrern, die nicht in meinem Auto sitzen, ist Notwehr zur emotionalen Selbstbehauptung zuweilen nötig. Aber damit ist für mich Schluss. Ich bin jetzt freundlich. Eigentlich immer. Zu meinem eigenen Erstaunen.

Das ist der größte Vorzug, wenn man nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben nicht mehr Teil einer institutionellen Hierarchie sein muss. Die permanente Bewertung fällt weg. Die Erwartung auch. Es gibt nichts mehr zu beweisen. Keine Agenda frühmorgens beim Aufstehen. Keine Treffen mit Menschen, die einen zu diplomatischen Höchstleistungen zwingen. Vielen Leuten, die darauf gedrillt waren, fehlt das, wenn man sie in den Ruhestand zwingt. Mir nicht. Infolgedessen bin ich offenbar zu einem stets netten Menschen geworden. Zu meinem eigenen Erstaunen.

Nettigkeit nicht aus christlichen Gründen

Um zu verstehen, wie einfach das prinzipiell sein kann, muss man sich allerdings erst einmal von einem sozusagen christlich aufgezwungenen Standpunkt befreien: der Vorstellung, dass eine gute Tat, und sei sie noch so klein, Teil einer immerwährenden Buße ist, die uns sozusagen als Fronleistung von einer durch Geburt auferlegten biblischen Schuld befreien soll.

Ich glaube nicht an so etwas und fühle es auch nicht. Ich habe es schon vor 60 Jahren beim protestantischen Kindergottesdienst am Sonntagmorgen nicht gefühlt, wenn mir gesagt wurde, ich sei ein Sünder. Ich war noch so klein und wusste nicht viel von der Welt. Aber dass ich nichts für das Blut des armen Jesus Christus mit der Dornenkrone am Kreuz über mir konnte, dessen war ich mir ganz sicher.

Befreiung durch gute Taten – wie bei Buddha

Es würde womöglich viel mehr Gutes auf der Welt getan werden, wenn mehr Menschen verstünden, dass eine gute Tat stets zwei Menschen Glück bringt: dem, der sie empfängt, und dem, der sie tut. Dieser Selbstprofit bleibt in monotheistischen Religionen stets unbetont, während zum Beispiel Buddha seinen Schülern ganz offen gesagt hat, dass ihr eigenes Leiden gelindert wird, wenn sie fremdes lindern – durch dieses Gefühl, für sich selbst ein Teil des Guten und Befreiten geworden zu sein. Und sei es nur kurz.

Da es sich dabei um eine nicht zu widerlegende Wahrheit handelt, die einem alle in der Psychologie geschulten Personen bestätigen werden, denke ich, dass sie unabhängig vom persönlichen Glauben gesehen und von allen benutzt werden darf.

Viel Gelegenheiten für Freundlichkeit im Alltag

Freundlichkeit ist die kleinste Münze in der Währung des Guten, und wer nicht das Glück hat, mit ihren großen Noten gesegnet zu sein, sollte sie ohne zu zögern benutzen. Gelegenheiten dazu bietet der Alltag genug. Wer sich den Ernstfall mit Fremden draußen vor der Haustür nicht auf Anhieb zutraut, kann ja in der eigenen Familie üben. Freundlichkeit funktioniert sogar in einer Partnerschaft, auch wenn vielleicht zunächst der Argwohn des Ungewohnten aus der Welt geschafft werden muss. Denn man wird womöglich eine zweite Absicht dahinter vermuten. Meine Ehefrau hat sich inzwischen daran gewöhnt, während ich immer noch ein wenig nervös werde, wenn sie gar zu freundlich ist.

Man muss übrigens nicht permanent lächeln, um freundlich zu sein. Menschen, die permanent und anlasslos lächeln, sind mir unheimlich und der Beweis dafür, dass man nicht unbedingt freundlich sein muss, um zu lächeln. Ich könnte hier konkrete Beispiele aufzählen, aber das wäre nicht freundlich, also lassen wir das.

Meine Lieblingskassiererin im Supermarkt ist freundlich
Frank Nägele

Meine Lieblingskassiererin im Supermarkt ist freundlich. Ich habe immer das Gefühl, dass sie den ganzen Tag darauf gewartet hat, mich für etwas mehr als den Mindestlohn bedienen zu dürfen. Mein Zahnarzt und seine Assistentinnen sind freundlich, obwohl ich ihnen viel Arbeit und sie mir hin und wieder Schmerzen bereiten. Meine Steuerberaterin ist freundlich, obwohl wir nur mailen und telefonieren. Meine Nachbarn sind inzwischen ausnahmslos freundlich, was auch daran liegen mag, dass wir unser Haus verkauft haben, umgezogen sind und uns verkleinert haben. Denn namhafter Besitz, auch das eine universelle Wahrheit, kann das Freundlichsein wahnsinnig anstrengend machen.

Es sind in meinem Fall also begünstigende Umstände zusammen gekommen. Trotzdem geschah die Veränderung nicht an einem Tag, denn das größte Problem mit der kleinsten Münze des Guten ist die Wahrnehmung. Einer anderen Person, zum Beispiel beim Vorübergehen auf der Straße, zu zeigen, dass man sie wahrnimmt, beinhaltet ein Risiko: von ihr dieses Signal nicht zu bekommen.

Ignoriertwerden tut weh

In der Skala menschlicher Negativgefühle gibt es wenig Schlimmeres als dieses Ignoriertwerden. Dem Ignorierten wird sozusagen die Existenz abgesprochen. Es gibt ihn in diesem Moment nicht. Wir haben schon als Kinder gelernt, wie schlimm das ist und gelernt, mit diesem Tunnelblick durchs Leben zu gehen, der uns vor dieser Gefahr schützt – aber Begegnungen mit anderen fast unmöglich macht. Ich habe jetzt mit Mitte 60 keine Angst mehr vor diesem Risiko. Auf was soll ich warten? Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre, eines Tages mit diesem Tunnelblick zynisch ins Grab zu gehen. Dann lieber freundlich.

Allerdings habe ich gemerkt, dass man es auch übertreiben kann. Meine neueste Freundin, die Künstliche Intelligenz, antwortet mit sanfter Stimme auf fast alle Fragen, die ich ihr stelle. Und manchmal bilde ich mir ein, sie tut das vor allem deshalb, weil ich ein so netter Typ bin, der sich mit Formulierungen wie „wäre es möglich, dass...?“ oder „kannst du mir vielleicht etwas über ... erzählen?“ einschmeichelt, um bessere Resultate zu bekommen. Und bei erhellenden Antworten empfinde ich fast so etwas wie Dankbarkeit. Dabei könnte ich sie genau so gut mit „du Esel“ oder „dumme Sau“ ansprechen und erhielte von der mathematikbasierten, selbstlernenden Maschine dieselben Antworten.

Doch das würde ich niemals übers Herz bringen. Das ist der Preis der Freundlichkeit. Ich bezahle ihn gerne.