Neue Ausstellung im Museum LudwigWas ist nur aus dem einstigen Bürgerschreck geworden?

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Menschen stehen und knien mit dem Rücken zur Kamera auf der Straße.

Diese Aufnahme vom Deutschen Katholikentag ist derzeit in der Chargesheimer-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig zu sehen.

Zur 100. Geburtsfeier des Kölner Fotograf Chargesheimer lädt das Museum Ludwig ab Samstag, 27. April, in seine „Abstellkammer“.  

Als der Kölner Fotograf Chargesheimer das letzte Mal im Museum Ludwig gewürdigt wurde, rieselte reichlich Lorbeer auf sein Haupt. „Er war eine Ausnahmeerscheinung und sicher eine der bedeutendsten Künstler- und Fotografenpersönlichkeiten der Nachkriegszeit“, schrieben Ludwig-Direktor Kasper König und Kurator Bodo von Dewitz im Katalog zur großen Chargesheimer-Werkschau. Das war im Jahr 2007, und der 1971 verstorbene Fotograf stand dank seiner radikalen „Rollenwahl“ als Kölner Bohemien und Bürgerschreck bei den Autoren hoch im Kurs.

Gibt es über Chargesheimer zum 100. Geburtstag nichts Neues zu erzählen?

Gemessen an dieser Lobeshymne wirkt die aktuelle Chargesheimer-Ausstellung im Museum Ludwig wie eine Kurskorrektur – zumal sie den 100. Geburtstag des Fotografen zum Anlass hat. Am 19. Mai 1924 wurde dieser als Karl Heinz Hargesheimer in Köln geboren, die Feierlichkeiten finden ab diesem Samstag hauptsächlich im Fotoraum, der Abstellkammer unter den Ludwig-Schausälen, statt. An mangelnden Leihgaben kann es nicht liegen und auch nicht an zu hohen Kosten, denn der künstlerische Nachlass von Chargesheimer gehört der Stadt. Hat sich seine Rolle in den letzten 17 Jahren also grundlegend gewandelt? Oder gibt es über den Jubilar nichts Neues zu erzählen?

Barbara Engelbach macht aus den beengten Verhältnissen noch das Beste und konzentriert sich im Fotoraum auf die ersten beiden Fotobände von Chargesheimer; für seine frühen Fotoexperimente und einige seiner späten, selten gezeigten kinetischen Lichtkästen hat sie zwei zusätzliche Ecken in der Schausammlung freigeräumt. So wird der Künstler zwar vom Fotografen Chargesheimer getrennt, als seien sie nicht ein und dieselbe Person. Aber dafür löst die Rekonstruktion seiner Bücher „Cologne intime“ (1957) und „Unter Krahnenbäumen“ (1958) eine von König und Dewitz formulierte Einsicht überzeugend ein: „Sich mit Chargesheimer zu beschäftigen, bedeutet immer auch, die Kulturgeschichte dieser Jahrzehnte zu erforschen.“

Am Ende einer Straße ist am Horizont der Kölner Dom zu sehen.

„Autobahnzubringer im Rechtsrheinischen“, eine Aufnahme des Kölner Fotografen Chargesheimer

Bekannt wurde Chargesheimer 1957 mit einem „skandalösen“ Adenauer-Porträt für den „Spiegel“, auf dem der Bundeskanzler weniger altersweise als versteinert wirkt. Im selben Jahr erschien „Cologne intime“, ein Fotoband, für den Chargesheimer im städtischen Auftrag Bilder des gelungenen Wiederaufbaus sowie Aufnahmen des „typischen“ kölschen Alltags liefern sollte. Die Texte steuerte Hans Schmitt-Rost, Leiter des Nachrichtenamtes, bei, der den Band auch gestaltete und die Botschaft maßgeblich bestimmte – mitunter gegen die Intentionen des Fotografen.

Aus den Bildern, die Chargesheimer 1957 beim Katholikentag in Köln machte, wählte Engelbach drei Motive aus. Sie zeigen aus erhöhter Perspektive eine Menschenmenge, die auf etwas oder jemanden außerhalb des Bildraums schaut. Während Schmitt-Rost in seiner Legende die angebliche Immunität des katholischen Köln gegen den NS-Geist beschwor, bleibt bei Chargesheimer die Erinnerung an die „Massenhysterie“ zwischen 1933 und 1945 stets präsent. Die Aufnahmen der Hohe Straße lieferte er schon eher wie bestellt. Allerdings interessierten ihn auch hier weniger die Wohlstandsversprechen der belebten Einkaufsmeile als das Verhältnis von Masse und Individuum.

Offenbar träumte Chargesheimer davon, seine „Meditationsmühlen“ auf den Polizeifunk reagieren zu lassen

„Unter Krahnenbäumen“ war Chargesheimers Antwort auf das „intime“ Kölnbuch: ein unverstellter Blick auf den Stadtteil Eigelstein, in Eigenregie entstanden und ohne Bildlegenden. Hier darf das ausgebombte Köln noch unwidersprochen düster sein, und die „kleinen Leuten“ werden nicht von oben herab als „Typen“ eingestuft. Stattdessen flirtet Chargesheimer geradezu mit seinen Gegenübern; unsichtbar konnte er sich mit seiner Großbildkamera ohnehin nicht machen.

Eine längere Schnitzeljagd entfernt liegen die beiden Kunstkammern der Geburtstagsschau. Hier zeigt Engelbach einige um 1950 entstandene „Fotografiken“, für die Chargesheimer ohne Kamera mit chemischen Substanzen experimentierte, etwa, indem er die Emulsionsschicht des Negativs erhitzte und reagieren ließ. Diese Spukbilder unterscheiden sich von ähnlichen Experimenten der Fotoform-Bewegung durch die Betonung des Zufalls und eine unverkennbare Liebe zum „Schmutzigen“.

An diese Frühphase seiner Karriere erinnerte sich Chargesheimer, als er sich in den 1960er Jahren der Konstruktion von „Meditationsmühlen“ widmete: kinetische Objekte aus Plexiglas, die, durch Zahnräder in Bewegung versetzt, ein betörendes, aber vor allem chaotisches Lichtspiel erzeugen sollten. Offenbar träumte Chargesheimer davon, seine durchaus zeittypischen „Mühlen“ auf Polizei- und Taxifunk reagieren zu lassen. In der aktuellen Ausstellung stehen die drei Lichtspiele aus konservatorischen Gründen still – so weit ist es mit dem einstigen Bürgerschreck gekommen.

„Chargesheimer“, Fotoraum im Museum Ludwig, Heinrich-Böll-Platz, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, 27. April bis 10. November 2024.

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