StellungnahmeWestfälische Kirchenleitung solidarisch mit EKD-Ratsvorsitzender

Lesezeit 6 Minuten
Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), spricht im Ulmer Congress Centrum bei einer Pressekonferenz.

Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der westfälischen Landeskirche, auf der EKD-Synode in Ulm.

Michael Bertrams, Mitglied in der Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen, hält Rücktrittsforderungen gegen die EKD-Ratsvorsitzende für unangemessen.

Gegen Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), sind Vorwürfe zu ihrem Umgang mit einem Missbrauchsvorwurf gegen einen Kirchenmitarbeiter in den 1990er Jahren erhoben worden. Ich halte diese Vorwürfe gegen Kurschus und insbesondere Rücktrittsforderungen für unangemessen.

Die Vorwürfe gegen Kurschus erschöpfen sich in dem Hinweis, sie habe von dem Missbrauchsverdacht gegen den Beschuldigten nicht erst seit Anfang dieses Jahres, sondern schon seit Ende der 1990er Jahre gewusst. Dass sie sich daran nicht erinnern könne, sei nicht glaubhaft.

Der Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, Michael Bertrams, verkündet am 8. Dezember 2012 in Münster ein Urteil.

Michael Bertrams war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen.

Annette Kurschus hat nach Bekanntwerden der gegen den Beschuldigten erhobenen Vorwürfe die Kirchenleitung der westfälischen Kirche und auch den EKD-Rat darüber informiert, dass sie den Beschuldigten sehr gut kenne. Er sei mit einer guten Freundin von ihr verheiratet und habe mit ihr drei Kinder. Es sei ihr – wie auch anderen Mitgliedern der evangelischen Kirchengemeinde in Siegen – bekannt gewesen, dass der Beschuldigte gern auch die Nähe von Männern gesucht habe, also offenbar auch homosexuell veranlagt sei. Dass der Beschuldigte Missbrauch begangen, also sexuelle Gewalt ausgeübt haben solle, habe sie sich zu keinem Zeitpunkt vorstellen können.

Unabhängig davon hat Kurschus von Beginn an immer wieder und mit Nachdruck betont, dass in dem Siegener Fall eine schonungslose, opferorientierte kircheninterne Aufklärung geboten sei. Dabei hat sie sich, um jeglichen Anschein einer unangemessenen Intervention zu vermeiden, aus der konkreten Fallbehandlung durch die kirchlichen Gremien konsequent herausgehalten.

Die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft

Am 14. November war den Medien zu entnehmen, dass die Ermittlungen der Siegener Staatsanwaltschaft bislang keine nennenswerten Hinweise auf eine strafrechtliche Relevanz erbracht haben. „Uns ist zumindest nichts bekannt geworden, dass mit körperlicher Gewalt, Drohungen oder mit Androhung von Schlägen oder sonstigem irgendwelche Leute gefügig gemacht worden sein sollen“, sagte ein Behördensprecher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es sehe für die Staatsanwaltschaft danach aus, dass der Beschuldigte, ein ehemaliger Mitarbeiter des Kirchenkreises, seine Stellung ausgenutzt habe, um erwachsene junge Männer „irgendwie zu verführen, dass sie mit ihm homosexuelle Handlungen vornehmen".

Nach den bisherigen Ermittlungen werde davon ausgegangen, dass die mutmaßlichen Geschädigten zum Zeitpunkt der Vorfälle volljährig gewesen seien. Hier stelle sich allenfalls die Frage, ob es sich um einen Missbrauch von Schutzbefohlenen handeln könnte oder ob die Vorfälle strafrechtlich nicht zu erfassen seien, weil ein Erwachsener auch Nein sagen könne. Das werde noch geprüft.

Am 14. November hat sich die „Siegener Zeitung“ des Falls angenommen und die Frage aufgeworfen, ob die frühere Siegener Pfarrerin und heutige Präses der EKvW und EKD-Ratsvorsitzende „von Missbrauch in Siegen gewusst“ habe. Einen Tag später legte die Zeitung nach und berichtete, Zeugenaussagen und Dokumente belasteten Kurschus schwer. Danach sei sie bereits Ende der 1990er Jahre bei einem Gespräch in ihrem Garten von einem (erwachsenen) Betroffenen auf das missbräuchliche Verhalten des Beschuldigten, eines Kirchenmitarbeiters, hingewiesen worden. An dem Gespräch solle noch eine weitere Pfarrerin teilgenommen haben sowie vier Männer, darunter ein mutmaßliches Opfer. Die Zeugen hätten dies eidesstattlich versichert.

Kurschus' Erklärung vor der EKD-Synode

Zu dem Bericht der „Siegener Zeitung“ vom 15. November hat Kurschus noch am selben Tag vor der EKD-Synode in Ulm Stellung genommen: Es handele sich um „Andeutungen und Spekulationen“, die sie „mit Nachdruck“ zurückweise. An der Schwere der mutmaßlichen Taten gebe es keinen Zweifel. „Was dieser Person vorgeworfen wird, ja was Betroffenen wohl durch diese Person angetan wurde, ist entsetzlich.“ Sie prüfe sich intensiv, ob sie etwas überhört oder übersehen habe. Gebe es vielleicht ein Missverständnis? Sie könne an dieser Stelle jetzt nur sagen, dass die angedeuteten Vorwürfe sie absolut befremdeten.

Bewertung

Kurschus‘ Erklärung vor der Synode ist angesichts einiger Ungereimtheiten kommunikativ unglücklich. Das gilt insbesondere für ihren Hinweis, sich einer intensiven Selbstprüfung unterzogen zu haben. Die sich aufdrängende Frage, ob es das „Gartengespräch“ nun gegeben habe oder nicht, bleibt damit unbeantwortet beziehungsweise in der Schwebe. Kurschus schließt jedenfalls nicht aus, dass es das Gespräch im Garten mit der Information über missbräuchliches Verhalten gab. Damit ist breiter Raum für Spekulationen eröffnet.

Aus dieser Reaktion auf die Berichterstattung und die darin enthaltenen Vorwürfe mag man Annette Kurschus einen Strick drehen und ihr vorhalten, unglaubwürdig zu sein. Das dürfte insbesondere bei Akteuren der Fall sein, die Kurschus nicht wohlgesinnt oder ihr gar böswillig gesonnen sind.

Wer Annette Kurschus kennt, wird ihre Erklärung vor der Synode mit anderen Ohren hören.
Michael Bertrams

Wer Annette Kurschus hingegen seit vielen Jahren aus enger Zusammenarbeit kennt, wie es bei mir in meiner Eigenschaft als nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung der EKvW der Fall ist, wird ihre Erklärung vor der Synode mit anderen Ohren hören und zu einer anderen Bewertung kommen.

Vom Bericht der Siegener Zeitung  über das „Gartengespräch“ samt den dazu vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen ist Annette Kurschus meines Erachtens buchstäblich überrumpelt worden. Jedenfalls hatte sie während der EKD-Synode in Ulm keine Zeit und Gelegenheit, bereits am selben Tag eine wohlüberlegte, in sich stimmige, plausible Erklärung zu Papier zu bringen und der Synode vorzutragen.

Was Kurschus mit ihrer in Eile verfassten, holprigen Erklärung sagen wollte, ist nach meinem Dafürhalten klar.
Michael Bertrams

Was sie mit ihrer in Eile verfassten, holprigen Erklärung sagen wollte, ist nach meinem Dafürhalten aber dennoch klar: „Ich halte sexuellen Missbrauch für entsetzlich, erst recht, wenn er von einem Mitarbeiter begangen wird. An ein vor mehr als 20 Jahren geführtes Gespräch und seinen Inhalt kann ich mich hier und jetzt aber bei bestem Willen nicht erinnern. Das gilt auch für meine Erinnerung an die damaligen Gesprächspartner. Was die ‚Siegener Zeitung‘ schreibt, schockiert und befremdet mich. Aber derzeit weiß ich nicht einmal, wer hier solch massive Vorwürfe gegen mich erhebt und was genau in den eidesstattlichen Versicherungen steht.“

Wer ist schon in der Lage, sich aus dem Stand an Einzelheiten eines mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Gesprächs im Garten zu erinnern? Die Entgegnung, den Hinweis auf das missbräuchliche Verhalten eines Kirchenmitarbeiters und guten Bekannten, könne Kurschus schlechterdings nicht vergessen haben, greift meines Erachtens zu kurz. Auch wichtige Ereignisse im Leben eines Menschen geraten aus unterschiedlichen Gründen oftmals in Vergessenheit. Davon habe ich mich bei meiner richterlichen Befassung etwa mit Asylverfahren, deren maßgeblicher Sachverhalt oft weit zurücklag, immer wieder überzeugen können.

Fazit

Vor diesem besonderen Hintergrund halte ich die jetzt erhobenen Rücktrittsforderungen für unangemessen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass eine Berufung auf fehlende Erinnerung in der öffentlichen Wahrnehmung – nicht erst seit dem Fall Woelki in Köln – einen bitteren Beigeschmack hat. Das darf jedoch nicht dazu führen, derjenigen, die erklärt, sich bei bestem Willen nicht erinnern zu können, von vornherein und ausnahmslos die Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Das Landeskirchenamt in Bielefeld hat angekündigt, dass Präses Kurschus am kommenden Montag eine persönliche Erklärung abgeben und darin auf die medial verbreiteten Vorwürfe gegen ihre Person Bezug nehmen wird.

Dem kann und soll meine Stellungnahme selbstverständlich nicht vorgreifen. In der festen Überzeugung von ihrer Glaubwürdigkeit und Integrität  ist es mir jedoch ein großes Bedürfnis, Annette Kurschus in voller Übereinstimmung mit sämtlichen Mitgliedern der Kirchenleitung öffentlich meine und unser aller Solidarität zu bekunden.

Der Autor

Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen und des Oberverwaltungsgerichts in Münster. Er gehört seit 2012 als gewähltes nebenamtliches Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche von Westfalen an. Auf ksta.de und im „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Kolumne „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen. (jf)

KStA abonnieren