New WorkVier-Tage-Woche, Homeoffice, Workation – Wie realistisch ist eine neue Arbeitswelt?

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Eine Frau sitzt im Homeoffice auf einem Teppich und arbeitet an einem Laptop (Symbolbild).

Eine Frau sitzt im Homeoffice auf einem Teppich und arbeitet an einem Laptop (Symbolbild).

Die Vier-Tage-Woche, Homeoffice, Work-Life-Balance und andere Annehmlichkeiten werden derzeit viel diskutiert. Eine Bestandsaufnahme zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit.

So viel Aufmerksamkeit hat Knut Giesler für seine Leute lange nicht mehr bekommen. Man werde, hat der Chef der nordrhein-westfälischen IG Metall angekündigt, in der Stahlindustrie für den Einstieg in die Viertagewoche kämpfen. Das könne nicht nur Jobs sichern, sondern vor allem auch junge Menschen für die vermeintlich gestrige Branche einnehmen. Es scheint zu klappen: „Die Reaktion hat uns überrollt“, heißt es bei der Gewerkschaft.

Allen, denen die Viertagewoche als Krisensymptom der Neunzigerjahre vertraut ist, muss man vielleicht kurz erklären: Ihren Kindern ist sie eine Verheißung. Was vor genau 30 Jahren zur Rettung des VW-Konzerns erdacht und gut ein Jahrzehnt später ebenfalls zu seiner Rettung wieder abgeschafft wurde, ist unter der Überschrift „New Work“ plötzlich hip.

Projekte zur Arbeitsverkürzung werden im Internet begeistert diskutiert, Studien dazu begierig aufgesogen. Vier Tage Arbeit und drei Tage frei – das ist ein großer Schritt zur Work-Life-Balance. Jedenfalls arithmetisch. Vielen wäre sogar die sonst so gefürchtete Arbeitsverdichtung recht. Plan A sind zwar weniger Stunden fürs gleiche Geld. Aber als Plan B wären auch unveränderte Wochenstunden in weniger Tagen akzeptabel. Oder das gleiche Pensum in weniger Stunden. Solange nur mehr vom Leben fern der Lohnarbeit bleibt.

Die Motive der ersten Maidemonstranten waren die gleichen – und doch ganz anders. Ende des 19. Jahrhunderts kämpften sie darum, die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden zu begrenzen, an sechs Tagen pro Woche. Rund 70 Wochenstunden waren bis dahin die Regel. Das „richtige“ Leben fand im Wesentlichen schlafend statt, die wache Zeit war geprägt von zumeist sinnleeren, fremdgesteuerten Pflichtübungen.

Gewerkschaften fremdeln mit neuem Blick auf die Arbeit

Beides hat die Arbeiterbewegung geändert. Sie hat dem Leben zu seinem Recht verholfen, und sie hat um den Sinn in der Arbeit gekämpft. Am 1. Mai feiern die Gewerkschaften auch den spektakulären Erfolg auf diesem Weg.

Aber sie fremdeln mit dem neuen Blick auf die Arbeit. Sie sind schließlich zur Bewegung geworden, weil Lohnarbeit mehr sein soll als Broterwerb. Die Maikundgebungen wollen bis heute Demonstration und Familienausflug sein, verbinden Kampfreden und Currywurst, Arbeit und Leben.

Doch für immer mehr Menschen sind das Antipoden. Das eine scheint nur zulasten des anderen zu gehen, die Anteile werden präzise abgewogen. Oft klingt eine Entfremdung durch, als müsse das Leben vor der Arbeit in Sicherheit gebracht werden.

Online-Tipps für vermeintlich arbeitsarmes Leben

Das Internet ist voll von Tipps für ein vermeintlich arbeitsarmes Leben. Da berichten mitteljunge Menschen, dass sie bis zum 40. Geburtstag jeden Cent umdrehen werden, um danach nicht mehr für Geld arbeiten zu müssen. Frugalismus heißt der Trend. Auch „passives Einkommen“ ist zum Zauberwort geworden – leben von Miet- oder Kapitalerträgen. Und hat man diese Notausgänge aus der Arbeitswelt verpasst, bleibt noch Quiet Quitting – so heißt Dienst nach Vorschrift, wenn er Trend ist.

Längst gibt es große Analysen zu diesem Phänomen. Als Ursache werden in der Regel die Eigenheiten verschiedener Generationen genannt. Die Babyboomer folgen demnach klassischen Karriere- und Belohnungsmustern. Schon Generation X (geboren in den Siebzigern) wolle erst einmal motiviert werden, bei Generation Y – den Millennials – sei das Privatleben bereits wichtiger als die Arbeit, und Generation Z interessiere sich sowieso nur für Facebook. Bis Tiktok kam.

Aber so einfach ist es nicht. Wer seinen Job still zur Pflichtübung degradiert – Quiet Quitting – hat zumeist Jahre oder Jahrzehnte ambitionierterer Arbeit hinter sich. Auch die massive Zunahme psychisch bedingter Fehlzeiten ist nicht generationsspezifisch. Und schon gar nicht der in vielen Unternehmen still tobende Kampf ums Homeoffice.

Viele fühlen sich mit Distanz zum Betrieb wohler

Beschäftigte wollen nicht nur zu Hause bleiben, weil das praktischer ist oder weil man sich mancher Lästigkeit entziehen kann. Viele haben vor allem festgestellt, dass sie sich wohler fühlen mit Distanz zum Betrieb – räumlich und innerlich. Derweil wandern Chefinnen und Chefs durch spärlich besetzte Büros und hadern mit der Entfremdung in der Unternehmensfamilie.

Nennen wir es lieber Emanzipation. Die entsteht aus Selbstbewusstsein, und das ist in Zeiten vergleichsweise sicherer Arbeitsplätze gewachsen. Ein Zeichen für diese Emanzipation ist die Abwehr einer empfundenen Übermacht. Die äußert sich nicht mehr wie vor 100 Jahren durch Allmacht des Arbeitgebers. Es ist eher seine Allgegenwart, oder um im Familienbild zu bleiben: Die Unternehmen klammern.

Vielleicht begann es in den Neunzigern mit Globalisierung und Standortdebatte. Plötzlich war da eine Herausforderung, die Arbeitgeber und Beschäftigte gleichermaßen traf. Ihre Verteilungskämpfe wirkten auf einmal ein bisschen kleinkariert gegenüber Gegnern, die das große Ganze gefährdeten. Nun hatten beide Lager das gleiche Interesse. Man raufte sich zusammen, zog an einem Strang, identifizierte sich mit der gleichen Aufgabe: Das Unternehmen sichern.

Diesem Geist ist das Überleben vieler Firmen zu verdanken – und das Gefühl vieler Menschen, auch ganz weit unten in der Hierarchie an vorderster Front der Wettbewerbsfähigkeit zu kämpfen. Das Fußvolk wird für das große Ganze mit in die Verantwortung genommen – und empfindet das nicht selten als unangemessene Last.

Derweil legen sich die Unternehmen mächtig ins Zeug. Nie zuvor haben sie sich so viel Mühe gegeben, Personal zu werben und zu halten. Sie erklären sich und ihre Ziele, versuchen, ihre Leute einzubeziehen, zu begeistern, verborgene Talente zu heben.

Menschen wollen an einer gemeinsamen Mission teilnehmen

Die Menschen sollen nicht nur einfach ihren Job machen, sondern an einer gemeinsamen Mission teilnehmen. Weil die aber nach Restrukturierungen, Strategieschwenks und Besitzerwechseln oft gar nicht so leicht zu finden ist, wird sie als Mission Statement aufgeschrieben. Die Sätze beginnen gern mit „Wir sind“, „Wir wollen“ und „Wir werden“.

Doch je intensiver sich die Firmen bemühen, desto öfter geht es schief. Die Mitglieder der Generation Z „gelten bereits jetzt als die illoyalsten Jobber aller Zeiten“, sagte jüngst Julian Stahl vom Karrierenetzwerk Xing. Das liegt auch daran, dass ihre Sätze eher mit „Ich“ als mit „Wir“ beginnen. Wer täglich vom Fachkräftemangel hört, hofft eben stets auf den nächsten roten Teppich, der irgendwo ausgerollt wird.

Aber das Verhalten zeugt auch von Durchblick. Denn junge Berufstätige merken schnell, dass die Realität zu oft hinter den großen Worten zurückbleibt. Sie wollen Sinn und bekommen „Purpose“. Sie suchen eine berufliche Heimat und finden „Corporate Culture“. Sie stellen Fragen und hören Phrasen.

Cooler Tischkicker entpuppt sich als Ablenkung von mauem Gehalt

Der coole Tischkicker im Büroflur entpuppt sich als Ablenkung vom mickrigen Gehalt. Das visionäre Start-up feuert seine Leute schneller, als es sie eingestellt hat – wenn sie überhaupt Verträge hatten. Und der lässig geduzte Chef tickt im entscheidenden Moment nicht anders als früher der Herr Generaldirektor. Die Folge ist nicht Identifikation, sondern eine große Enttäuschung.

In der Konsequenz werden die Sphären Arbeit und Leben getrennt. Die Flucht in die Freizeit zeugt auch von der Sorge, im angeblichen Interesse des großen Ganzen über den Tisch gezogen zu werden. Quiet Quitting verstehen viele als Notwehr gegen eine schleichende Vereinnahmung.

Das ist einerseits schade, weil es einen immer noch großen Teil der Lebenszeit zu einer ziemlich zähen Angelegenheit machen kann. Es ist aber auch ökonomisch heikel, denn die Unternehmen kämpfen ja nicht umsonst um den Einsatz ihrer Leute. Die Zeiten sind anspruchsvoll, der Wandel hat viele Vornamen: Technologie, Demografie, Klima und einige mehr. All das zu gestalten ist, wie es irgendeine Generation vor den Boomern sagte, den Schweiß der Edlen wert.

Leider wird es vorerst wohl nicht genügen, ihn an nur drei oder vier Tagen pro Woche zu vergießen. Das würde mehr Frugalismus erzwingen, als selbst die Generation Z feiern mag. Es sei denn, die künstliche Intelligenz bringt Produktivitätssprünge wie einst die Dampfmaschine. Dann wäre aber – ebenfalls wie damals – erst einmal sicherzustellen, dass die Gewinne daraus unter allen statt nur unter ein paar Milliardären verteilt werden.

Das sensible Verhältnis von Arbeit und Leben

Seit 1890 ist der 1. Mai der Kampftag der Gewerkschaften, und so sehr sich die Welt seitdem verändert hat: Letztlich ging es immer um das sensible Verhältnis von Arbeit und Leben, um nüchterne Interessenwahrung und Begeisterung für eine Aufgabe. All das wird gerade nicht zum ersten Mal neu austariert. Wenn die Gewerkschaften clever sind, können sie dabei eine große Hilfe sein.

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