Nicht mit Waffen lösenSeit 79 Jahren erinnern Alpträume Wesselingerin an Zweiten Weltkrieg

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Das Bild zeigt das alte, von Bomben beschädigte, Rathaus in Wesseling.

Das alte Rathaus war nach dem Krieg durch Bomben zerstört - so zogen die Amerikaner zunächst ins Haus Herdt, das ganz in der Nähe vom Elternhaus von Marie Tüllmann stand.

Keine Nacht habe sie zwischen 1940 und 1945 durchschlafen können. Nachts heulten die Sirenen – sie wusste nie, wann.

„Ich kann einfach nicht verstehen, warum die Menschen nicht gelernt haben, dass Krieg immer grausam ist – für alle Betroffenen“, sagt Marie Tüllmann nachdenklich. Oft frage sie sich: „Warum reden die Leute nicht miteinander – Konflikte lassen sich nie mit Waffen lösen, sondern nur in Gesprächen und mit Kompromissen.“ Das gelte im Kleinen und müsse doch auch im Großen gelten.

Nachrichten schaut die 94-jährige Wesselingerin nicht mehr. „Nicht, weil ich mich nicht für die Geschehnisse in der Welt interessiere“, sagt sie. Es sei einfach schwer, die Bilder von Tod, Krieg und Zerstörung ansehen zu müssen. „Das habe ich fünf lange Jahre selber erlebt“, sagt sie. Keine Nacht habe sie zwischen 1940 und 1945 durchschlafen können. Nachts heulten die Sirenen – sie wusste nie, wann.

„Ich musste mich dann immer auch um meine Geschwister kümmern“, sagt sie. Oft blieben ihnen nur wenige Minuten, um aus dem Bett in den nächsten Bunker zu rennen. Tagsüber seien die Jagdbomber oft so tief über Wesseling geflogen, dass sie die Piloten habe sehen können. „Die kamen im Tiefflug aus dem Vorgebirge und drehten in Wesseling Richtung Köln ab.“ Dann habe sie die Bomben auf Köln fallen sehen und die Detonationen bis Wesseling gehört.

Die Eltern hatten einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb

„Die Angst war immer dabei“, sagt Marie Tüllmann. Alpträume hätten sie noch lange nach Kriegsende verfolgt. „Sie kommen manchmal noch heute – 79 Jahre nach Kriegsende.“ Oft reiche ein Geräusch oder eine Frage, dann sei der Krieg wieder in ihrem Kopf.

Marie Tüllmann wurde am 21. Juni 1929 in Wesseling am Markt geboren. Dort hatten ihre Eltern einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb – eine Kuh, ein Pferd, ein paar Schweine und Hühner. Auf ihren Ackerflächen haben sie Gemüse angebaut und Futter für das Vieh.

Das Bild zeigt Marie Tüllmann

Marie Tüllmann ist 94 Jahre alt und erinnert sich noch gut an den Krieg und das Kriegsende in Wesseling vor 79 Jahren.

Ihr Auto sei direkt zu Kriegsbeginn von der Wehrmacht konfisziert worden. Es muss Mitte April 1945 gewesen sein, als die Familie von Nachbarn erfuhr, dass die Amerikaner in Köln waren. Ihr Vater habe es strikt abgelehnt, Radio zu hören. In den ersten Tagen im Mai 1945 sei ihr Onkel Anton Engels, er saß damals im Gemeinderat in Wesseling, mit Pfarrer Konrad Röttgen und acht oder zehn Leuten mit weißen Tüchern Richtung chemischer Fabrik gegangen – den Amerikanern entgegen.

Alle Häuser entlang des Rheins mussten geräumt werden

„Mit ihrer Ankunft in Wesseling war der Krieg aus – mein Onkel hat ihnen die Stadt übergeben.“ Am 8. Mai jährte sich das offizielle Ende des Zweiten Weltkriegs zum 79. Mal. Alle Häuser entlang des Rheins, von der Nordstraße bis zur Lucia-Kapelle und in den Nebenstraßen, mussten mit dem Einzug der Amerikaner auf Anordnung geräumt werden. „Auch wir mussten aus unserem Haus“, sagt sie.

Verwandte in Berzdorf nahmen sie auf. Einige Habseligkeiten packten die Familie auf ihren alten Leiterwagen. Dann wurde das Pferd eingespannt, und es ging nach Berzdorf. Unmöglich war es jedoch, auch alle Tiere mitzunehmen. Deswegen erhielten sie von den Amerikanern eine Ausnahmegenehmigung. Morgens und nachmittags durften sie zum Hof, um die Tiere zu versorgen. „Das haben oft meine Schwester und ich gemacht“, sagt sie.

Das Bild zeigt Marie Tüllmanns Schwester Gertrud.

Marie Tüllmanns Schwester Gertrud – im Hintergrund steht noch der Leiterwagen, auf den ihre Familie zum Kriegsende ihre Habseligkeiten gepackt und für ein paar Tage nach Berzdorf umgezogen sind.

Wegen der Ausgangssperre mussten sie aber spätestens um 19 Uhr wieder in Berzdorf sein. Die Verwaltung der Amerikaner war in den ersten Wochen im Haus Herdt an der Römerstraße eingerichtet. „Das war ganz am Ende unseres Grundstücks“, sagt sie. Die Amerikaner seien stets freundlich gewesen – Unterhaltungen seien allerdings nur mit Händen und Füßen möglich gewesen. Die leergeräumten Häuser durften nicht abgeschlossen werden. Jederzeit musste die Amerikaner dort nach dem Rechten sehen können. Die Gefahr sei gewesen, dass Plünderer vorbeizogen, aber auch, dass die Wehrmacht vom rechten Rheinufer aus noch einmal angreifen könnte.

Mit dem Leiterwagen ging es zurück

Doch dieser Ausnahmezustand dauerte nur wenige Tagen. Dann durften alle Familien zurück in ihre Häuser. Mit dem Leiterwagen ging es zurück. Unter der Autobahnbrücke hatten die Amerikaner einen Kontrollposten eingerichtet. „Dort habe ich die beiden ersten farbigen Soldaten in meinem Leben gesehen“, sagt Marie Tüllmann. Sie seien sehr freundlich gewesen und hätten ihr und ihren Geschwistern Schokolade geschenkt. „Leider hat mein Vater alle Tafeln direkt eingesammelt“, erinnert sie sich. Sämtliche Zimmer ihres Hauses waren durch die Detonationen in Mitleidenschaft gezogen. Einzig ihr Wohnzimmer war vor der Ausquartierung noch unversehrt.

Wir hatten im Wohnzimmer einen kleinen Geldschrank stehen
Berichtet die 94-Jährige

„Doch als ich bei unserer Rückkehr das Zimmer sah, musste ich heulen“, sagt Tüllmann. Putz und Mörtel waren nun auch dort aus der Decke und den Wänden gebröckelt und hatten sich wie ein grauer, staubiger Pelz über alle Möbel verteilt. Wenig später erfuhr sie von den Amerikanern den Grund für die Verwüstung. „Wir hatten im Wohnzimmer einen kleinen Geldschrank stehen“, berichtet die 94-Jährige. Bevor sie das Haus verlassen mussten, hatte sie ihn ausgeräumt und bewusst offenstehen lassen. Doch irgendwie muss die Tür ins Schloss gefallen sein. In ihrer Abwesenheit sprengten die Amerikaner das Schloss auf. Doch das wollte die damals 15-Jährige nicht hören.

„Ich war einfach nur wütend und habe sie angeschrien: Danke, Sie haben das einzige heile Zimmer im Haus kaputtgemacht. Bis heute weiß ich nicht, ob sie mich verstanden haben“, sagt die Seniorin. Aber sie hat ihnen schnell verziehen. Mit einigen Jugendlichen spielte sie einige Tage nach diesem Ereignis Völkerball.

„Zuerst haben uns die jungen amerikanischen Soldaten zugesehen, irgendwie aber auch zu verstehen gegeben, dass sie mitmachen wollten.“ Natürlich durften sie. „Wir haben sie in unseren Mannschaften aufgeteilt, und dann gab es in Wesseling Ende Mai 1945 das erste deutsch-amerikanische Völkerballmatch.“

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