frank&frei„Natürlich kommt auch die Frage nach Schuld“

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Das Symbolfoto zeigt eine Person, die mit einem Handy telefoniert.

Annelie Bracke, Leiterin der Katholischen Telefonseelsorge Köln,spricht in der Talkreihe „frank&frei“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit dem Moraltheologen Jochen Sautermeister über die Bedeutung von Werten und Normen.

Frau Bracke, wie hilft Ihnen Ihre Ausbildung als Theologin bei Ihrer Arbeit in der Telefonseelsorge?

Theologie hat mich gelehrt, zu reflektieren und ins Wort zu bringen, was mich im Glauben an Gott trägt. Es geht uns in der Telefonseelsorge zwar dezidiert nicht darum, zu missionieren. Aber in unseren Gesprächen kommt angesichts von Sorgen, Krankheiten, Ängsten und seelischen Nöten manchmal – wie von selbst – die Frage nach Gott auf. Oft vorsichtig, tastend, suchend, als etwas sehr Persönliches, Intimes. Darüber zu sprechen, sind wir Menschen heute gar nicht mehr gewohnt.

Annelie Bracke mit dem Kölner Stadtdechanten Robert Kleine bei der Feier zum 40-jährigen Bestehen der Telefonseelsorge

Annelie Bracke mit dem Kölner Stadtdechanten Robert Kleine bei der Feier zum 40-jährigen Bestehen der Telefonseelsorge

In welchen ethisch-moralischen Fragen suchen Menschen Ihren Rat?

Nur ganz selten werden wir so direkt gefragt, ob ein bestimmtes Verhalten ethisch richtig oder falsch ist. Natürlich kommen alle Themen vor, in denen Menschen vor Entscheidungen stehen: Soll ich mich von meiner Partnerin trennen? Will ich als Schwangere das ungeborene Kind zur Welt bringen? Wie gehe ich in heftigen Konflikten mit einem Angehörigen um? Und natürlich kommt da auch manchmal die Frage nach Schuld auf. Aber gerade dann komme ich den Menschen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger.

Sondern?

In dieser Arbeit bin ich Seelsorgerin: Ich versuche mit den Menschen gemeinsam Wege zu suchen, die für sie gangbar sind. Oder auch darauf zu schauen, wie sich Verletzungen heilen lassen könnten, die jemand einem anderen oder sich selbst zugefügt hat.

Wir werden so gut wie nie gefragt: „Was sagt die Kirche dazu?“
Annelie Bracke

Geben Sie denn auch das weiter, was die katholische Kirche zu bestimmten Fragen sagt – im Sinne einer moralischen Norm?

Es gibt in jeder Religion Vorstellungen von einem gelingenden Leben, so auch im Christentum. Manches davon teile ich als gläubige Katholikin: Werte wie Treue in einer Beziehung zum Beispiel. Aber ich habe nicht das Recht, anderen das in der Beratung am Telefon vorzuschreiben. Es würde mir zum Beispiel nie einfallen, die homosexuelle Beziehung eines Anrufenden in Frage zu stellen, nur weil die katholische Kirche gelebte Homosexualität verurteilt. Anders ist das, wenn jemand anderen oder sich selbst durch sein Verhalten Schaden zufügt, sie in Gefahr bringt oder ihnen gar Gewalt antut. In solchen Fällen ist für mich klar, dass ich das klar benenne – weil es hier um die Verletzung universeller Werte geht.

Die Reformkräfte in der katholischen Kirche fordern Veränderungen etwa in der Sexualmoral und der Bewertung von Homosexualität. Würde Ihnen das helfen?

Ich glaube nicht, dass sich dadurch bei uns etwas ändern würde. Ganz einfach, weil wir so gut wie nie gefragt werden: „Was sagt die Kirche dazu?“

Die Anrufenden wollen kein moralisches Gütesiegel.
Annelie Bracke

Sondern?

In unseren Gesprächen geht es um persönliche Verletzungen, um Brüche im Leben, um Einsamkeit, Ängste. Die Anrufenden wollen kein moralisches Gütesiegel, sondern sie wollen angenommen werden und ein Stück Orientierung für ihr Leben finden. Und selbst wenn Glaubensthemen zur Sprache kommen, drehen sich diese so gut wie nie um moralische Normen, sondern um Sinnfragen.

Erleichtert Ihnen das die Arbeit?

(lacht) Jedenfalls ist es auf diese Weise leichter, den Fokus auf die Gefühle der Anrufenden zu richten, auf ihr Bedürfnis, im Einklang mit sich selbst und anderen zu leben. Das ist auch nicht leicht, aber darauf können wir uns dann konzentrieren.


Zur Person / frank&frei

Annelie Bracke, geb. 1960, ist Diplom-Psychologin. Sie leitet seit 2000 die Katholische Telefonseelsorge Köln. Bracke hat neben Psychologie auch Germanistik und Katholische Theologie studiert. Sie ist zudem als Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin  in eigener Praxis tätig. (jf)

frank&frei: Leben zwischen Gelingen, Brüchen und Neuanfängen. Annelie Bracke im Gespräch mit Jochen Sautermeister, Professor für Moraltheologie (Universität Bonn), Teil 1 der Gesprächsreihe „Wozu noch Theologie? Von Relevanz und Risiken einer Wissenschaft“.

Donnerstag, 1. Februar, 19 Uhr, in der Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln. Eintritt: 10 Euro (ermäßigt und mit KStA-ABOCARD 5 Euro). Zur Anmeldung geht es hier.

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