Flugblatt-Affäre um AiwangerWelche Bedeutung haben die Freien Wähler in NRW?

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Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie von Bayern, spricht auf einer Pressekonferenz.

Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger hat sich in der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten entschuldigt.

Der Chef der Freien Wähler gerät wegen eines antisemitischen Flugblatts aus Schulzeiten unter Druck. Rückendeckung bekommt er auch aus NRW. 

Der Druck auf den bayerischen Vizeregierungschef Hubert Aiwanger in der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus dessen Schulzeit nimmt weiter zu. Die Opposition beantragte am Donnerstag eine Landtagssondersitzung für kommende Woche. Aus dem Bund werden derweil Rufe laut nach personellen Konsequenzen aus dem Skandal um das sogenannte „Auschwitz-Pamphlet“: SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese legte Aiwanger in der „Rheinischen Post“ den Rücktritt nahe, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erklärte die Causa gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“ zur „Frage der politischen Haltung, nicht der politischen Taktik“ – ein Fingerzeig an Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Söder spielt mit den 25 schriftlich zu beantwortenden Fragen an seinen Stellvertreter und Wirtschaftsminister bislang auf Zeit. Aiwanger selbst trat dann am Donnerstagnachmittag vor die Presse, verlas ein kurzes Statement, erklärte, er habe als Jugendlicher Fehler gemacht. Er bereue „zutiefst“, wenn er damit Gefühle verletzt habe. An seiner Linie hielt Aiwanger aber fest: Weder sei das Pamphlet von ihm, noch könne er sich etwa an Hitlergrüße erinnern. Gegen ihn und seine Partei werde nun trotzdem eine „politische Kampagne“ geführt.

Schon zuvor hatten sich die Freien Wähler mit Treuebekenntnissen an ihren Vorsitzenden gekettet. „Wir stehen als Freie Wähler hundertprozentig hinter Hubert Aiwanger. Und das werden wir auch weiter tun“, heißt es von Generalsekretärin Susann Enders. Auch Fraktionschef Florian Streibl sicherte Aiwanger in der Affäre um das Flugblatt, von dem Aiwangers Bruder Helmut behauptet, er hätte es verfasst, Solidarität zu.

Auch von den Freien Wählern aus Nordrhein-Westfalen erhält der Politiker Rückendeckung. „Ich glaube uneingeschränkt, was er gesagt hat“, sagt der Landeschef Ralf Krings auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Ich kenne Herrn Aiwanger seit fünf Jahren und es gibt viele, die ihn sehr viel länger kennen. Niemand behauptet ernsthaft, dass er irgendwann einmal in irgendeiner Weise fremdenfeindlich oder antisemitisch gewesen sei. Mir fehlt einfach die Fantasie, dass er als Mensch in seiner Jugend so eine Gesinnung gehabt haben könnte.“

Wie sich der Skandal auf die Partei auswirkt im Vorfeld der Landtagswahl am 8. Oktober, ist völlig offen. Klar ist aber: Ohne Aiwanger sind die Freien Wähler kaum vorstellbar. „Seine Rolle ist zentral“, sagt Politikwissenschaftler Michael Angenendt vom Düsseldorfer Parteienforschungsinstitut PRUF im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „Aiwanger hat maßgeblich die Richtung der Freien Wähler seit deren Gründung mitgeprägt.“ Ein Blick auf die Partei, ihre Strukturen – und die Rolle des wackelnden Chefs.

Wer sind die Freien Wähler?

Die Freien Wähler in ihrer heutigen Form gibt es seit 2010, sie sind hervorgegangen aus dem gleichnamigen Bundesverband kommunaler Wählergemeinschaften, den es schon seit 1965 gibt. Sie sind damit die erste bundesweite politische Vereinigung freier Wählergemeinschaften, mit eigenen Listen bei Landtags-, Bundestags-, und Europawahlen. In Bayern treten die Freien Wähler schon seit 1998 bei Landtagswahlen an, 2008 gelang ihnen erstmals der Einzug ins Parlament, schon damals unter Landeschef Hubert Aiwanger, der seit Gründung der Bundesvereinigung 2010 auch Bundesvorsitzender der Partei ist, zudem Chef des weiter existierenden Bundesverbands. „Es ist“, sagt Angenendt, „so etwas wie der Supervorsitzende, der in allem, was die Freien Wähler betrifft, die Geschicke leitet.“

2018 holten die Freien Wähler in Bayern ihr bis heute bestes Ergebnis mit 11,6 Prozent, koalieren seitdem im Freistaat mit der CSU, die deutlich verlor und ihre absolute Mehrheit einbüßte. Seit 2019 sind sie auch im Landtag von Brandenburg vertreten, ihnen gelang mit 5,0 Prozent der Einzug. 2021 schafften die Freien Wähler mit 5,4 Prozent der Stimmen in Rheinland-Pfalz den Sprung in ein drittes Landesparlament. Mit 2,4 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 sind sie derzeit die stärkste außerparlamentarische Oppositionspartei, sitzen außerdem mit zwei Abgeordneten im Europaparlament. Dem jüngsten Rechenschaftsbericht nach hatte die Partei im Jahr 2020 6225 Mitglieder. Ihr mit Abstand wichtigstes: Hubert Aiwanger.

Welche Bedeutung hat die Partei in Nordrhein-Westfalen?

Im Grunde spielt sie keine Rolle. Bei der Landtagswahl 2022 kam sie auf 0,7 Prozent der Stimmen, derzeit hat sie knapp 400 Mitglieder. Seit März 2023 geht sie nach einer Satzungsänderung in die Offensive und will künftig auch bei den Kommunalwahlen als eigenständige Partei antreten. Bisher hatte sie darauf verzichtet, um den freien Wählergemeinschaften in den Kommunen des Landes, von denen es rund 350 gibt, keine Konkurrenz zu machen.

Wofür stehen die Freien Wähler?

Programmatisch agiert die Partei nach Selbstauskunft „sachbezogen, bürgernah und unabhängig“, man verortet sich im Regionalen. Aus Sicht des Politikwissenschaftlers Michael Angenendt, der mehrfach zu den Freien Wählern publiziert hat, stellt sich die Position in der politischen Landschaft so dar: „Sie versuchen, das konservative Spektrum rechts der Union, aber links der AfD zu besetzen.“ In der Vergangenheit haben sich die Freien Wähler bewusst als „anständige Alternative“ ins politische Schaufenster gestellt. Für ähnliches – die Bezeichnung der CDU als „Alternative für Deutschland mit Substanz“ – ist deren Chef Friedrich Merz kürzlich hart kritisiert worden.

Aiwanger und seine Partei spielen nur allzu gern mit dieser semantischen Nähe, ohne aber der AfD zu nahe zu kommen. „Sie achten schon darauf“, sagt Angenendt, „dass man sich dann doch etwas von der Tonalität und auch von den Positionen der AfD absetzt.“ Der Politikwissenschaftler nennt diesen Kurs „Populismus light“. Das Ziel: die Stimmen der latent Unzufriedenen im konservativen Spektrum einzusammeln.

Was macht der Fall Aiwanger mit den Freien Wählern?

Für die Partei ist die Situation um ihren Vorsitzenden ein großes Problem. „Ich sehe momentan innerhalb der Partei niemanden, der so viel Strahlkraft auf die Mitglieder ausübt, der die Rolle des Parteiführers derart ausfüllen könnte, der auch nur annähernd eine vergleichbare mediale Bekanntheit hätte wie Aiwanger“, sagt Experte Michael Angenendt. „Ein anderer oder eine andere hätte es sehr schwer, in diese Rolle nachzurücken, denn die Partei ist seit Jahren auf diese eine Figur zugeschnitten.“ Dass die Freien Wähler ihrem Vorsitzenden den Rücken stärken, ist also gewissermaßen eine Sache der Selbsterhaltung. „Anders kann ich mir das in dieser Geschlossenheit nicht erklären“, sagt Angenendt.

Auch die CSU bringt die Personalie Hubert Aiwanger in eine unkomfortable Lage. Entlässt Markus Söder seinen Wirtschaftsminister aus der Staatsregierung, könnten die Christsozialen zwar einerseits profitieren und ihre Stimmenanteile erhöhen. Parteienforscher Michael Angenendt hat mit zwei Kollegen das Wählerverhalten wissenschaftlich untersucht und sagt: Die Freien Wähler würden schrumpfen, die CSU zugleich mehr Zugewinne erzielen als die AfD. Die Gefahr bestünde aber, dass die Freien Wähler die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen und als Koalitionspartner ausfallen würden. Ein Bündnis mit den Grünen hat Söder eigentlich ausgeschlossen. „Das ist“, sagt Angenendt, „ein schwieriger Balanceakt.“ Einer mit Sturzgefahr.

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