Neue Video-Technik im FußballDie Schiedsrichter hinter den Kulissen

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Schiedsrichter Hellmut Krug, Videoschiedsrichter Deniz Aytekin und ein Techniker (v.r.)

Schiedsrichter Hellmut Krug, Videoschiedsrichter Deniz Aytekin und ein Techniker (v.r.)

Köln – Es läuft die vierte Minute im Spiel Borussia Dortmund gegen Hoffenheim, als 80.000 Menschen im Signal-Iduna-Park jubeln und Schiedsrichter Deniz Aytekin in einem fensterlosen Kölner Kellerraum flucht. Der Dortmunder Marco Reus lässt sich in der Sonne vor der Südtribüne feiern, Aytekin zieht in den Katakomben des Cologne-Broadcasting-Centers (CBC) in Deutz die Stirn kraus und ruft: „Das darf nicht wahr sein! Das glaube ich nicht! Nein!“ 

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Marco Reus jubelt über seinen Treffer gegen Hoffenheim am 6. Mai.

Er leidet mit seinem Schiedsrichterkollegen im Stadion, Felix Brych, der doch eigentlich alles richtig gemacht hat, Aytekin hat es über Funk gehört: Brych hat seinen Assistenten an der Seitenlinie gefragt, ob er die Situation gesehen habe: Hat der Dortmunder Castro den Ball an Reus weitergeleitet oder war es ein Hoffenheimer? Es war Castro, Reus war deswegen im Abseits. 

Neun Sekunden für Korrektur

Der Assistent hatte es genau wie Brych nicht erkannt. In der nächsten Saison, wenn der Videoassistent genannte Videoschiedsrichter in der Ersten und Zweiten Fußballbundesliga offiziell getestet wird, hätte es neun Sekunden gebraucht, bis Aytekin per Funk aus Deutz seinen Kollegen auf dem Dortmunder Rasen korrigiert hätte. Abseits – kein Tor.

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War Marco Reus im Abseits bei seinem Bundesliga-Treffer am Samstag?

Schlagzeilen wie „Reus und Schiedsrichter Brych retten BVB“ (sueddeutsche.de) oder „Hoffenheim fühlt sich benachteiligt“ (Sport 1) hätte es auch deswegen nicht gegeben, weil Aytekin Brych ein zweites Mal verbessert hätte: In der zweiten Halbzeit hält der Dortmunder Sokratis den Hoffenheimer Wagner im Strafraum am Trikot fest und zieht ihn dabei fast aus. Dass es ein Elfmeter ist, sehen Aytekin und Hellmut Krug, Schiedsrichter-Manager der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und Supervisor der Videoassistenten, am Bildschirm in Deutz sofort: Binnen zehn bis 15 Sekunden hätte Aytekin Brych in der kommenden Spielzeit über Funk gesagt: „Klares Trikotziehen, Elfmeter.“

Nächste Saison wird die Technik bei allen Spielen angewendet

Ab der Saison 2017/18 werden alle Spiele der Bundesliga von zusätzlichen Videoschiedsrichtern, die im Keller des RTL-Gebäudes sitzen, auf Fehler überprüft. Die Videoassistenten, ausgebildete Bundesligaschiedsrichter, überprüfen mit Hilfe eines Videotechnikers und mehr als einem Dutzend Kameraeinstellungen nur Aktionen, die im direkten Zusammenhang mit einem Tor, einem Elfmeterpfiff und mit einer Roten Karte stehen. Auch, wenn versehentlich der falsche Spieler eine Gelbe oder Rote Karte erhält, greifen die Schiedsrichter aus dem Kölner Kellerstudio ein.

Schiedsrichter Hellmut Krug, Videoschiedsrichter Deniz Aytekin und ein Techniker (v.r.)

Schiedsrichter Hellmut Krug, Videoschiedsrichter Deniz Aytekin und ein Techniker (v.r.)

Seit Beginn der Saison testen die Schiedsrichter die neue Technik. Beim Länderspiel Frankreich gegen Spanien haben Felix Zwayer als Schiedsrichter und Tobias Stieler als Videoassistent als erste Deutsche einen Live-Test bestanden. Der Videoschiedsrichter wird auch beim Confed-Cup und bei der U-20-WM eingesetzt – bewährt er sich, werden auch die Spiele der Weltmeisterschaft 2018 in Russland videoüberprüft. Auch in der Champions League und der Europa League werde der Videoassistent später einmal mit „99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit kommen“, glaubt Hellmut Krug.

An jedem Spieltag gucken sich die Schiedsrichter unter Krugs Anleitung schon ab mittags strittige Szenen aus anderen Spielen an und diskutieren darüber. „Es ist eine große Umstellung für die Schiedsrichter, sie sind ja gewohnt, die Entscheidungen direkt auf dem Spielfeld zu treffen und nicht vor dem Bildschirm zu analysieren“, sagt Krug. „Es ist mental genauso anstrengend wie auf dem Platz“, sagt Deniz Aytekin.

Korrekturhilfe ist erwünscht

Spieler und Schiedsrichter freuen sich auf die Einführung der Korrekturhilfe – auch wenn die Kölner Videobeobachter relativ selten aktiv eingreifen, die meisten Szenen werden nur im Hintergrund überprüft: Bis zum 31. Bundesligaspieltag haben die Verantwortlichen „95 spielrelevante Fehlentscheidungen gezählt“, sagt Hellmut Krug. „In 72 Fällen hätte die Entscheidung korrigiert werden können.“

In einigen Fällen sind auch die Videobeobachter machtlos: Zum Beispiel, wenn der Schiedsrichter im Stadion Abseits pfeift, das aber nicht stimmt. Bei tornahen Abseitsstellungen sollen die Schiedsrichter deswegen ab der kommenden Saison einen Moment mit dem Pfiff warten: „So können die Tore noch gegeben werden, falls sich bei der Überprüfung herausstellt, dass es nicht abseits war“, sagt Krug. Grundsätzlich werden Abseitstore auf den Monitoren schnell erkannt: „Beim Champions-League-Spiel Madrid gegen Bayern hätten mit Videoassistent drei Tore nicht gezählt“, sagt Krug. „Der Fußball wird also gerechter.“ 

Wenn der Schiedsrichter eine völlig andere Wahrnehmung als der Videoassistent hat, kann er sich vor seiner endgültigen Entscheidung die strittige Szene am Spielfeldrand selbst noch einmal anzusehen – wie es im Eishockey seit vielen Jahren üblich ist. Der Schiedsrichter auf dem Rasen kann auch selbst Die Überprüfung einer Szene durch Videoassistenten anfordern und seine Entscheidung dann gegebenenfalls ändern.

„Es bleibt kein Fehler mehr unentdeckt“

Die Videoassistenten werden bei ihrer Arbeit ebenfalls mit Kameras beobachtet. Sie werden im Spielberichtsbogen genannt und müssen sich bei strittigen Entscheidungen womöglich der Öffentlichkeit stellen. „So ist die Zeit, es bleibt kein Fehler mehr unentdeckt, das gilt wegen der Fernsehkameras für den Fußball wie für den Alltag“, sagt Deniz Aytekin. 

„Wenn wir heute vor dem Spiel irgendwo was essen und trinken gehen, fotografiert uns jemand und die Leute wissen am nächsten Tag, was wir gegessen und getrunken haben. Das ist nicht unbedingt schön, aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Dass wir beim Einsatz als Videoassistent gefilmt werden, ist kein Problem, es muss ja transparent sein, was wir tun.“

Am Samstag sitzen vier Videoassistenten mit Kaffee, Wasser und Schokoriegeln vor den Bildschirmen: Neben Deniz Aytekin (Dortmund – Hoffenheim), der in der ersten Halbzeit ein halbes Dutzend strittiger Szenen zu beurteilen hat, gucken Sascha Stegemann (Gladbach – Augsburg), Günter Perl (Ingolstadt – Leverkusen) und Patrick Ittrich (Frankfurt – Wolfsburg) genau hin. Sobald ein hartes Foul passiert, ein Spieler im Strafraum womöglich im Abseits steht, bei Handspielen oder strittigen Torsituationen ruft der Videoschiedsrichter „Check!“ und lässt sich die Szene aus verschiedenen Kameraperspektiven und in Zeitlupe zeigen. 

Szenen nicht immer klar erkennbar

Beim Spiel in Ingolstadt wird der Leverkusener Torwart Leno vom Ingolstädter Leckie im Gesicht getroffen – Schiedsrichter Harm Osmers pfeift lediglich, Perl sähe keinen Grund, ihm zur Korrektur zu raten: Die Szene ist nicht klar erkennbar, von einer Absicht des Ingolstädters und einem Rot würdigen Fußeinsatz kann hier nicht die Rede sein. „Wir greifen nur bei glasklaren Situationen ein“, sagt Krug.

In Dortmund gibt es weitere strittige Entscheidungen. Im „Sportstudio“ wird am Abend kommentiert, der Strafstoß für Hoffenheim sei unberechtigt gewesen. In den Katakomben wird die Situation als „Kann-Elfmeter“ beurteilt – kein Grund, einzugreifen. In der zwölften Minute ist für Videoschiedsrichter Aytekin nicht zweifelsfrei zu sehen, ob Reus den Ball mit dem Arm annimmt, bevor er ihn in die Mitte spielt. Reus flankt, einem Hoffenheimer Spieler springt der Ball an die Hand, Schiedsrichter Brych pfeift Elfmeter. „Zum Glück hat Aubameyang den verschossen“, sagt Hellmut Krug. Sonst wären die Schlagzeilen nach dem Spiel wohl noch deftiger ausgefallen.

In der kommenden Saison würde es dann wohl heißen: „Videoschiedsrichter übersieht Handspiel.“ Oder: „Hoffenheimer sauer auf Videoassistent Deniz Aytekin.“ Die Stammtischgespräche werden also auch in Zukunft sicher nicht abreißen.

Flächendeckender Einsatz in der kommenden Saison

Die Fußballbundesliga ist die erste europäische Fußballliga, in der der Videoassistent ab der kommenden Saison flächendeckend eingesetzt wird. Ein Anlass, sich an diesem Projekt zu beteiligen, sagt DFL-Schiedsrichter-Manager Hellmut Krug, sei die „ungewöhnlich hohe Anzahl von klaren Fehlentscheidungen in der vergangenen Saison“. Der 1. FC Köln hatte sich seinerzeit mehrfach benachteiligt gefühlt. 

„Der Druck auf die Schiedsrichter ist mit den Jahren immer größer geworden“, sagt Krug. „Ihre Fehler werden von der Öffentlichkeit nach wie vor nicht akzeptiert. Deswegen müssen wir unsere Schiedsrichter schützen.“ Wenn sich der Videoassistent bewährt, kann er nach zweijähriger Testphase von der Fifa und dem für das weltweite Fußballregelwerk zuständige International Football Association Board (IFAB) offiziell eingeführt werden. Auch andere internationale Ligen testen die Technik derzeit. Geplant ist ein Einsatz bei der Fußball-WM in Russland 2018.

Zwei Unternehmen stellen Technik zur Verfügung

Zwei Unternehmen – Evertz und Hawkeye – stellen in der Testphase die Videotechnik zur Verfügung. Die Deutsche Fußball-Liga wird sich für einen der Dienstleister entscheiden, der ab der nächsten Saison die Fernsehbilder mit den Schiedsrichtern überprüft. Die Testphase kostet einen siebenstelligen Betrag.

Die Bilder, die zu Korrekturen der Schiedsrichterentscheidungen führen, werden möglicherweise nicht auf den Videoleinwänden im Stadion zu sehen sein, wohl aber kurze Informationen, warum eine Entscheidung korrigiert wurde. Fürs Fernsehen werden die relevanten Kameraeinstellungen dann an die Sender übertragen, um die strittigen Situationen für die Zuschauer aufzuklären. (uk)

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