Documenta in KasselHier ist die Gegenwart Ereignis

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Documenta

Die Kritik schäumt, aber die Menschen stehen trotzdem Schlange: Muss man vielleicht selbst gesehen haben, wie schlecht die Kasseler Documenta ist? 

Kassel – Die Documenta ist wieder zu Hause angekommen. Am Mittwoch schwebte Rebecca Belmores aus Athen angeliefertes Marmorzelt an einem Kran über den Weinbergterrassen in Kassel ein – das Gastspiel der Documenta in der griechischen Hauptstadt ist damit auch symbolisch beendet. Über Sinn und Unsinn des Athener Vorspiels gehen die Meinungen weiterhin auseinander, was mehr ist, als man über den Kasseler Teil der Documenta sagen kann. Selten wurde das weltweit bedeutendste Kunstfestival von der deutschen Kritik so einhellig geschmäht: als Ausverkauf der Kunst an die politische Korrektheit, als kuratorische Meinungsdiktatur oder sogar als Skandal an Steuerverschwendung. Allerdings zeigte sich das Publikum davon völlig unbeeindruckt: Zur Halbzeit sagt die Geschäftsführung der Documenta einen neuen Besucherrekord voraus.

Marmorzelt

Das Marmorzelt „Biinjiya·iing Onji (Von innen)“ der kanadischen Künstlerin Rebecca Belmore hängt auf den Weinberg-Terrassen in Kassel (Hessen) an einem Kran.

Muss man sich also um die geistige Gesundheit der Documenta-Reisenden Sorgen machen? Oder eher um die der deutschen Kunstkritik? Andererseits gilt es auch das Phänomen des Katastrophentourismus zu bedenken: Vielleicht wollen die Menschen einfach mit eigenen Augen sehen, wie schlecht die Documenta ist.

Die Antwort liegt wohl eher in der ureigenen Natur des 1955 gegründeten Kunstfestes. Da es nur alle fünf Jahre stattfindet, scheint die Documenta über dem atemlosen Wechsel der Messen und Ausstellungen zu stehen und aus erhöhter Sicht einen Überblick auf die aktuelle Strömungen der Kunst zu geben. Sie verspricht dem Publikum also nichts weniger als Zeitgenossenschaft – auch wenn sich der Charakter dieser Zeit erst rückblickend enthüllt. Es gehört zum Mythos der Documenta, dass jede ihrer Ausgaben erst mit gebührendem zeitlichem Abstand verstanden werden kann. Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Im Hier und Jetzt ist man immer blind für die historischen Zusammenhänge des eigenen Erlebens. Aber man will wenigstens dabei gewesen sein.

Die Documenta scheint über Kritik erhaben

Möglicherweise lernt die deutsche Kunstkritik gerade, was die Filmkritik schon lange weiß: Man kann vielleicht ein kleines Ereignis „groß“ schreiben, aber niemals ein Großereignis klein. Die Documenta scheint längst über jede Kritik erhaben, so wie „Star Wars“ im Kino oder die Fußball-Weltmeisterschaft im Fernsehen. Und tatsächlich ist sie für die zeitgenössische Kunstwelt so etwas wie ein überlebenswichtiger Blockbuster: Allein in Kassel (und vielleicht noch in Venedig) kann die Gegenwart mit der klassisch gewordenen Vergangenheit in Besucherzahlen konkurrieren. Unter dem Markendach der Documenta ähnelt selbst die abseitigste Installation einem impressionistischen Gemälde.

Aber bedeutet diese wundersame Verwandlung auch, dass auf der Documenta die wahre Kunst zu sehen ist – etwa im Gegensatz zur vielbeschworenen Kunstmarktkunst? Adam Szymczyk, Leiter der Documenta, scheint diesem Gedanken anzuhängen; er legte großen Wert darauf, dass die in Kassel gezeigte Kunst nicht leicht verkäuflich sei. Allerdings ist dies nicht zwangsläufig eine Frage der ästhetischen Originalität oder politischen Aufmüpfigkeit, sondern oft genug eine des Formats: Gemälde lassen sich eben leichter in private Wohnräume integrieren als Performances, Flüchtlingsprojekte oder in den Himmel wachsende Skulpturen.

Infos

Zur Halbzeit kamen laut Angaben der Documenta 445.000 Besucher zur Kasseler Kunstschau und damit 17 Prozent mehr als bei Halbzeit der letzten Ausgabe im Jahr 2012. Die Documenta zeigt Werke von 160 Künstlern und ist noch bis zum 17. September geöffnet. Am zweiten Standort Athen ist die Documenta bereits beendet.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich hat in diesem Zusammenhang eine alte These wieder aufgewärmt und unterscheidet zwei Sorten Kunst: die eine wird für Festivals und Kuratoren produziert und die andere für den Markt. Die Documenta wäre demnach für die großen Trends und die Haute Couture zuständig und Messen wie die Art Cologne für das Mitnahme-Segment. Diese Sichtweise hat immerhin den Vorteil, dass sie die Documenta weder künstlich zum Gegenpol des Kunstmarkts erhebt noch zum reinen Zulieferbetrieb der Messen degradiert.

Dem Publikum, das sich keine Kunst, aber eine Eintrittskarte leisten kann, mögen derlei Gedankenspiele freilich egal sein. Es nimmt die Documenta als den Gemischtwarenladen, der er stets war, und findet so garantiert viel Interessantes. Schon immer war es weiser, den Blick aufs Detail zu richten statt das Ganze zu verdammen.

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