Ermittler zur Explosion in RatingenSchriftstücke zeigen Bezüge zur „QAnon“-Bewegung

Lesezeit 5 Minuten
Kerzen erinnern vor einem Hochhaus in Ratingen an die zahlreichen verletzten Rettungskräfte nach einer bewusst herbei geführten Explosion in dem Gebäude.

Drei Menschen schweben immer noch in Lebensgefahr nach einer Explosion in einem Hochhaus in Ratingen vor eineinhalb Wochen.

Der 57-jährige Tatverdächtige von Ratingen spricht nicht mit dem Psychiater – das Motiv bleibt unklar. Den Behörden war er nicht als Gewalttäter bekannt.

Auch elf Tage nach der Brandattacke in Ratingen mit 35 teils lebensgefährlich verletzten Polizeibeamten und Feuerwehrleuten hat NRW-Innenminister Herbert Reul seine Erschütterung über die Vorgänge gezeigt. Der CDU-Politiker übte am Montagvormittag während einer Sondersitzung des Innenausschusses aber auch deutliche Kritik an der Opposition.

Er frage sich, so Reul, „ob es wirklich richtig ist, hier und jetzt in einer eiligst einberufenen Sondersitzung Details aufdröseln zu wollen, wer, wann, wo und warum was gesagt oder gemacht hat. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Angehörigen der verletzten Einsatzkräfte nach wie vor noch um das Leben ihrer Liebsten bangen.“ Die SPD-Fraktion hatte die Sitzung beantragt.

Dann kam der Minister seiner Berichtspflicht an die Abgeordneten nach. Demnach schweben drei Einsatzkräfte immer noch in Lebensgefahr. Dabei handelt es sich um eine 25-jährige Polizistin und ihren 29-jährigen Kollegen, die zuerst die Wohnung des Attentäters in einem Hochhaus in Ratingen betreten hatten, und einen Brandmeisteranwärter der Feuerwehr.

Alles zum Thema Herbert Reul

Rettungskräfte und ein Notarzt befinden sich im Krankenhaus - teils erhebliche Verbrennungen

Weitere vier Feuerwehr- und Rettungskräfte sowie ein Notarzt befinden sich nach wie vor schwerverletzt im Krankenhaus. „Auch hier kann sich die Lage wieder verschlechtern“, sagte Reul, „sie sind noch nicht über den Berg.“ Alle Opfer wiesen teils erhebliche Verbrennungen auf.

Der Täter, Thomas P., (Name geändert), war durch ein Spezialeinsatzkommando überwältigt worden. Der 57-jährige, der mit seiner Mutter in der Wohnung lebte, kam mit leichten Verletzungen davon. Inzwischen sitzt der ehemalige Handwerker wegen neunfachen versuchten Mordes in Untersuchungshaft.

Eine zum Teil bereits skelettierte Frauenleiche fand sich ebenfalls in der Wohnung. Vermutlich handelte es sich um die Mutter des Tatverdächtigen. Bisher gab es keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod. In einer anderen Wohnung wurde ein 73-jähriger Rentner ebenfalls leblos aufgefunden. In dem Zusammenhang läuft ein weiteres Verfahren, um die Todesursache zu klären.

Schriftstücke haben wohl Bezüge zur„QAnon"-Bewegung

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Ermittlerkreisen erfuhr, schweigt der Tatverdächtige bisher zu der Tat. Auch soll er sich geweigert haben, dem beauftragten psychiatrischen Gutachter Rede und Antwort zu stehen. Als Beschuldigter muss er sich nicht den Fragen stellen. Folglich fertigt der forensische Psychiater seine Expertise zur Frage der Steuerungsfähigkeit des Delinquenten anhand der Ermittlungsakte an. Gegen den Tatverdächtigen liegen keine Erkenntnisse des Staatsschutzes vor.

Offenbar hing der einstige Maler und Lackierer wirren Gedanken aus der Querdenker- und Prepper-Szene an. Der Begriff Prepper bezeichnet Menschen, die sich auf das Überleben nach einer verheerenden Katastrophe vorbereiten. Zugleich fabulierte er über das Endzeitalter und den Antichristen.

Nach neuesten Erkenntnissen der Ermittler und Informationen dieser Zeitung sollen die Schriftstücke, die nach dem Zugriff in der Wohnung gefunden wurden, Bezüge zur Verschwörungsbewegung „QAnon" erkennen lassen. Die Gruppe verbreitet aus den USA rechtsextemistische Verschwörungstheorien, in deren Zentrum eine vermeintliche satanistische Elite steht.

Haftbefehl nach nicht bezahlter Geldstrafe nach Körperverletzung – Beamte waren informiert

Laut Minister Reul begann der tragische Einsatz an jenem 11. Mai in der Berliner Straße 45 in Ratingen kurz vor zehn Uhr. Der Hausmeister der Wohnanlage hatte der Polizei per Fax mitgeteilt, dass die Mutter von P. vermisst werde und der Briefkasten überquelle. Nach wenigen Minuten stellte sich heraus, dass gegen den Sohn ein Haftbefehl vorlag, weil er eine Geldstrafe wegen Körperverletzung nicht gezahlt hatte.

Darüber informiert, traf eine erste Streife um 10.22 Uhr am Hausblock ein. Um die Wohnungstür aufzubrechen, wurde die Feuerwehr gerufen. Kurz vor elf Uhr meldeten die Streifenbeamten, dass die Wohnungstür im zehnten Stock von innen verbarrikadiert sei. Auch dringe Verwesungsgeruch nach draußen.

Nachdem die Tür durch die Feuerwehr aufgebrochen wurde, gingen die Polizeikommissarin und ihr Kollege in die Wohnung, auf dem engen Laubengang draußen warteten weitere Rettungskräfte. Thomas P. kam den Beamten entgegen, schüttete ihnen Benzin entgegen. Als der Beamte ihn mit gezogener Pistole aufforderte, sich auf den Boden zu legen, entzündete er die Flüssigkeit. Ein flammendes Inferno schlug bis in den Laubengang hinein und verletzte zahlreiche Menschen. Die beiden brennenden Polizisten stürmten aus der Wohnung und zehn Stockwerke auf die Straße hinunter.

Um 11.16 Uhr setzte der schwerverletzte Polizist einen Notruf bei der Leitstelle ab: Da „hat sich jemand angezündet“, alle seien schwer verletzt. Man brauche dringend Rettung. Danach brach das Gespräch ab.

Ermittler haben das Handy des Tatverdächtigen geknackt

Die komplexen Nachforschungen in dem Fall dauern weiter an. So konnten die Ermittler nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ inzwischen das Handy des Attentäters sicherstellen und den Code knacken. Durch die Auswertung des Mobiltelefons erhofft sich die Mordkommission weitere Aufschlüsse zum Motiv.

In seinem Vortrag machte der Minister nochmals klar, dass Thomas P. nicht als Gewalttäter im Polizeicomputer geführt wurde. Gegen ihn lagen auf Grund typischer Nachbarschaftsstreitigkeiten drei Eintragungen wegen einfacher Körperverletzung vor. In diesem Fall ging es den Angaben zufolge „um zwei Ohrfeigen und einen Schlag an die Schläfe“, erläuterte Reul. Der Attentäter sollte eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hatte. Deshalb war ein Haftbefehl ergangen.

Thomas P., so Reul, sei ein Routinefall gewesen. Bei mehr als 24.000 offenen Haftbefehlen wegen Ersatzfreiheitsstrafen gehen die Strafverfolgungsbehörden üblicherweise nicht mit dem großen Fahndungsbesteck an die Gesuchten heran. So war es auch bei Thomas P.

Am 27. März ging der Haftbefehl gegen P. bei der Polizeidienststelle in Mettmann ein. Drei Tage später suchte ein Bezirksbeamter die Wohnadresse in Ratingen auf. Er klingelte unten an der Haustür. Da niemand öffnete, steckte der Polizist eine weitere Zahlungsaufforderung in den Briefkasten. Für den 12. Mai war ein weiterer Besuch bei Thomas P. notiert. Am Tag zuvor setzte der Attentäter zahlreiche Einsatzkräfte in Flammen.

KStA abonnieren