AfghanistanVom Dach der Welt zum Eurofighter

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Als zweithöchster Soldat im deutschen Camp traf Gerhartz auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. BILDER: PRIVAT

Als zweithöchster Soldat im deutschen Camp traf Gerhartz auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. BILDER: PRIVAT

Rhein-Erft – Kerpen / Nörvenich. Wenn Ingo Gerhartz seine Eindrücke schildert, dann gerät er fast ins Schwärmen. Er spricht von schneebedeckten Höhenzügen des Hindukusch, von blühenden Wiesen in den Ebenen, vom „Dach der Welt“, das nach Süden zu einer flachen Landschaft mit Nadelwäldern abfällt. Und von den Gipfeln sind es mit einem Strahlenflugzeug nur Minuten bis in das flache Land, zur Wüste und den Oasen. „Schnee, Berge und blühende Wiesen im Wechsel, das ist einfach unvorstellbar.“

Dagegen steht die Erinnerung an Augenblicke der Gefahr, der Angst und der Sorge. Acht Monate war der Kommodore des Nörvenicher Jagdbombergeschwaders 31 „Boelcke“ in Afghanistan. Und als er Ende Oktober erstmals wieder deutschen Boden betrat, da war er heilfroh, dass ihm selbst und keinem der ihm in Mazar-e-Sharif unterstellten Soldaten etwas zugestoßen ist.

Zehn Särge

Das gilt nicht für alle Angehörigen der ISAF-Truppen am Hindukusch. Während seines Aufenthalts in der islamischen Republik hat der 44-Jährige vor zehn Särgen salutieren müssen. „Zehn Menschen, Kameraden, die Angehörige und Freunde trauernd zurücklassen.“ Fast jeden Tag seien irgendwo in Afghanistan die Flaggen auf halbmast, weil ein ISAF-Soldat gefallen ist. Vor dem Einsatz hätten ihm diejenigen, die schon in Afghanistan waren, prophezeit, dass er bei seiner Rückkehr nicht mehr derselbe sein werde. „Ich wollte es nicht glauben, doch sie haben Recht behalten.“

Der in Cochem an der Mosel geborene Gerhartz ist der erste Kommodore des Nörvenicher Geschwaders, der in dieser Eigenschaft zu einem Auslandseinsatz entsendet wird. Im internationalen Lager und deutschen Hauptquartier in Mazar-e-Sharif sind 3500 Soldaten stationiert. Es wird damals von General Jörg Vollmer befehligt. Gerhartz ist zweiter Mann im Camp der Deutschen. 1000 Soldaten sind ihm direkt unterstellt. Der Auftrag: Schutz der zivilen Bevölkerung, des Camps und des Flugplatzes.

Um diesen Auftrag zu erfüllen, unternimmt der erfahrene Pilot selbst Aufklärungsflüge mit Tornados des Geschwaders 51 Immelmann aus Jagel. Gerhartz muss jederzeit wissen, ob Gefahr für seine Leute oder das Camp droht. Wenige Tage nach seiner Ankunft wird ihm bereits klar, dass dies jederzeit eintreten kann: Direkt vor den Toren des Camps explodiert eine Autobombe.

Gerhartz ist viel unterwegs in diesen Monaten. Mit dem Tornado, mit dem Transportflugzeug Transall, mit dem Hubschrauber oder im Konvoi mit gepanzerten Fahrzeugen. „Man kann das Einsatzgebiet nur verstehen, wenn man überall gewesen ist.“ Im Auto hat er sein bedrohlichstes Erlebnis. Der gepanzerte Wagen kommt vor einem großen Kreisverkehr direkt hinter einem Tankwagen zum Stehen. Das könnte eine Falle sein, schießt es der Besatzung durch den Kopf. Eigentlich hätte eine solche Situation gar nicht entstehen dürfen. Bis die Fahrzeuge wieder rollen, vergehen bange Sekunden. Gerhartz: „Ich war mir der Gefahr in jeder Sekunde bewusst.“ Dass die Konvois besonders stark gesichert seien, sei unumgänglich. „Da weiß man schnell, dass die das nicht zum Spaß machen.“

Aber nicht nur die eigene Sicherheit treibt ihn um. „Ich muss immer wissen, was die Soldaten gerade machen, wie es ihnen geht, ob sie überfordert sind. Situationen, in denen Menschen dem Tod nahe kommen, führen oft zu merkwürdigen Reaktionen.“ Kurz vor Ende der Mission wird ein Hubschrauber beschossen, in dem deutsche ISAF-Soldaten sitzen. Ein junger Mann ist danach völlig verändert gewesen. Gerhartz: „So jemanden muss man aus der Schusslinie nehmen.“ Der Mann ist wie gelähmt und kapiert erst nach Tagen, was passiert ist. Der Alltag ist weniger spektakulär: Lagebesprechung, Einsatzplanung, Sport und was Menschen üblicherweise überall auf der Welt tun, schlafen und essen. Viele Termine führen Gerhartz in afghanische Häuser, Dörfer und Städte. Dort erfährt er nicht nur die Gastfreundschaft der Afghanen, sondern lernt auch eine für ihn zunächst verblüffende Freundlichkeit gegenüber Deutschen kennen.

Straßen unpassierbar

Die Eröffnung einer Schule im Ort Quali-N-Bafan, die Freude der Kinder, bleibt ihm ebenso im Gedächtnis wie die humanitäre Aktion im Frühjahr, als Schneeschmelze und Dauerregen einige Gebirgsstraßen zu den Dörfern unpassierbar machen und Hubschrauber und Transall-Flugzeuge Lebensmittel, Decken und Heizmaterial in die Bergdörfer bringen. Den Bombenangriff auf die Tanklastzüge nahe Kundus kennt er allerdings nur aus Berichten. Denn das deutsche Camp ist über die Operation im 200 Kilometer entfernten Kundus nach einem ISAF-Bericht nicht informiert worden. Erst zwei Stunden nach dem Bombardement, bei dem auch Zivilisten getötet wurden, erfährt die Führung in Mazar-e-Sharif davon.

Ende Oktober kehrte Oberst Gerhartz zurück, über Russland und das Schwarze Meer direkt nach Nörvenich. Der Empfang, den Freunde und Mitglieder des Geschwaders ihm bereiteten, sei einfach rührend gewesen, sagt Gerhartz. Viel Zeit, die Erlebnisse zu verdauen, bleibt ihm und den 30 Mitgliedern des Geschwaders, die im zwei- bis viermonatigen Wechsel mit ihm in Afghanistan waren, nicht. Der Eurofighter ist bereits gelandet. Der Wechsel vom Tornado auf das neue Flugzeug hat begonnen.

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