Bischof Lehmann rechnet mit neuen Missbrauchsvorwürfen

Lesezeit 3 Minuten

Mainz/Essen - Der Mainzer Bischof Karl Lehmann erwartet neue Vorwürfe gegen Priester wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch. "Nüchtern betrachtet muss man wohl mit weiteren Enthüllungen dieser Art rechnen", schrieb Kardinal Lehmann am Montag in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Das Bistum Essen machte am selben Tag einen Missbrauchsfall öffentlich, der 22 Jahre zurückliegt. Der geständige Priester sei inzwischen in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden, teilte Weihbischof Franz Grave mit.

Die Vorfälle träfen die "Kirche in diesem Land ähnlich wie in den Vereinigten Staaten ins Mark", heißt es in Lehmanns Erklärung weiter, die der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz als persönliche Meinungsäußerung verstanden wissen will. Sexuellen Missbrauch gebe es auch in anderen Berufsgruppen. "Aber die Kirche stellt sich hier selbst unter einen besonderen Anspruch; deshalb wiegt jede Schwäche um so schwerer. Wir müssen uns jetzt selbstkritisch fragen, ob es uns immer gelungen ist, dem Handlungsanspruch in einzelnen Fällen gerecht zu werden."

Zu Vorwürfen gegen das Bistum, Anschuldigungen gegen einen 47- jährigen Pfarrer aus Rüsselsheim nicht energisch verfolgt zu haben, sagte Lehmann: "Auch wenn man diesen (Verdachtsmomenten) sorgfältig nachgeht, muss man oft feststellen, dass sie beim besten Willen mit den der Kirche zu Verfügung stehenden Mitteln nicht ausreichend aufgeklärt werden können. Es ist nur zu leicht, aber dennoch falsch, angesichts dieser Schwierigkeiten rasch von "Vertuschung" zu reden."

Versäumnisse und Fehler gestand dagegen Weihbischof Grave bei der Verfolgung des Missbrauchfalles in seinem Bistum ein. Der heute 57- jährige Direktor einer Behinderteneinrichtung in Essen habe vor 22 Jahren als Kaplan einen Jugendlichen mehrere Jahre lang sexuell missbraucht und sei später mit ihm eine Beziehung eingegangen. Der Jugendliche hatte sich an den Pfarrer gewendet, weil er zuvor von einem Ordenspriester sexuell belästigt worden war. 1993 habe das Opfer dann die Kirchenleitung unterrichtet. Für die Täter habe dies keine Konsequenzen nach sich gezogen, sagte Grave, weil damals die "Stimmungslage anders" gewesen sei. Der Betroffene sei inzwischen selbst Priester und befinde sich in therapeutischer Behandlung.

Nach Angaben des Weihbischofs sind von den insgesamt 18 000 Priestern in Deutschland zur Zeit 200 bis 300 in Fälle von Pädophilie verwickelt. Im Bistum Essen seien 1992 und 1999 Geistliche wegen versuchten Missbrauchs zu Freiheitsstrafen auf Bewährung und Geldstrafen verurteilt worden. Nach dem aktuellen Fall habe das Bistum einen Krisenstab zur Aufklärung und Beleitung der Opfer gebildet.

Bei den zurzeit untersuchten Missbrauchsfällen in Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) und Georgenberg (Landkreis Neustadt/Waldnaab) gehen die zuständigen Staatsanwaltschaften nach den bisherigen Erkenntnissen von minderschweren Fällen aus. Darunter fällt etwa unsittliches Berühren von Kindern. Bislang sei kein Haftbefehl gegen die beurlaubten Geistlichen erlassen worden, da weder Flucht- noch Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bestehe.

Die Darmstädter Staatsanwaltschaft hält den Missbrauchsvorwurf gegen den Rüsselsheimer Priester aus den 80er Jahren für verjährt. "Der betroffene Jugendliche war damals bereits 16 Jahre alt oder kurz davor", sagte ein Sprecher am Montag. Bei dem aktuellen Verdacht des Missbrauchs eines 14-Jährigen, der im Frühjahr bei dem Priester gewohnt hat, sind nach den bisherigen Ermittlungen keine schwerwiegenden Übergriffe festgestellt worden. Allerdings werde der Jugendliche weiterhin vermisst.

Bernd Hans Göhrig, Bundesgeschäftsführer der Initiative "Kirche von unten" in Bonn, hat Lehmann inzwischen zum Rücktritt aufgefordert. Als Vorsitzender der Bischofskonferenz habe er von einigen Missbrauchs-Fällen gewusst und nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Der Kardinal lasse zudem nicht das "nötige Unrechtsbewusstsein für die eigene Kirche" erkennen. Gleichzeitig warnte Göhrig vor einer pauschalen Verdächtigung aller Priester. Die Mehrzahl handele in der Jugendarbeit korrekt und mit großem Idealismus. (dpa)

KStA abonnieren