Der Mann, der die Mauer entsorgte

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Mann vor Mauerresten: Rolf Ocken auf der Bernauer Straße in Berlin.

Mann vor Mauerresten: Rolf Ocken auf der Bernauer Straße in Berlin.

Da steht er am Rest der Mauer. Trenchcoat, das Haar weht. Leichter Nieselregen. „Bitte ein Lächeln“, sagt der Fotograf. „Die Berliner Mauer? Lächeln? Ich weiß nicht“, sagt Rolf Ocken. Er kommt gerade aus dem Rheinland, wo er wohnt. Nun steht er in der Bernauer Straße: 200 Meter Berliner Mauer sind noch übrig, 200 von 155 000 Metern. General a. D. Rolf Ocken und die Berliner Mauer. Heute sind es Erinnerungen. Als sie am 9. November 1989 offen war, standen dem damals 50-Jährigen Tränen in den Augen. „Was weinste denn?“, fragte ihn seine Tochter. Kurze Zeit später wurde die Mauer zum Job seines Lebens. Rolf Ocken wurde der Mann, der die Mauer abriss.

Täglich in Berlin: Touristen ziehen um das Brandenburger Tor. „Where is the wall?“, fragen drei junge Frauen aus Singapur. Sie blicken ratlos auf den Stadtplan, dann auf den Polizisten, der vor ihnen steht. „No wall“, sagt er und versucht zu erklären: Die Berliner Mauer sei weg. Lange schon. Abgerissen. Vor dem Brandenburger Tor zieht sich ein schmales Band aus Kopfsteinpflaster über den Asphalt, zur Erinnerung. „Hier“, sagt der Polizist. „Mehr ist nicht.“

Mauer teilte die Welt

Es war einmal. Die Mauer. Sie teilte Berlin, sie teilte die Welt. Am Anfang stand eine Lüge, am Ende ein Versprecher. „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“, sagt Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961. Das war die Lüge. Keine zwei Monate später, in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, begannen 14 500 Soldaten, Grenzpolizisten und Angehörige von Betriebskampfgruppen die Stadt abzuriegeln und einzumauern. Die Mauer bestand 10 315 Tage.

Mauer nicht völlig vergessen

Es war einmal. Die Mauer ist weg, aber nicht völlig vergessen. An der Bernauer Straße, wo Ocken gerade fotografiert wird, im ehemaligen Todesstreifen, steht heute ein Kirchlein, rund, karg, aus Lehm gebaut, mitten in einem Roggenfeld. Täglich um zwölf Uhr mittags, von dienstags bis freitags, nimmt Pfarrer Manfred Fischer das Mauertotenbuch und liest eine kurze Geschichte. Pfarrer Fischer, 59, ist ein drahtiger Mann, der sehr viel auf dem Fahrrad unterwegs ist. An diesem Tag liest er die Geschichte von Elke und Dieter Weckeiser aus Fürstenwalde. 1963 hatten sie geheiratet, 1967 planten sie die Flucht in den Westen. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Am 18. Februar 1968, gegen 22.50 Uhr, wollten sie in der Nähe des Reichstags-Gebäudes über die grell beleuchtete Grenze fliehen. Sie krochen gerade unter Stacheldraht hindurch, als zwei Grenzsoldaten sie vom 80 Meter entfernten Turm entdeckten. Der Postenführer schoss 16-mal, obwohl die beiden hätten festgenommen werden können. Elke Weckeiser starb kurze Zeit darauf an Bauchschüssen, ihr Mann einen Tag später an seinen Kopfverletzungen.

Pfarrer Fischer zündet zwei Kerzen an für die Toten. „Wir gedenken der Opfer. Wir vergessen die Teilung nicht“, sagt er. 160 Namen stehen in seinem Totenbuch.

Neben dem Kirchlein ist noch der Kolonnenweg der Grenzsoldaten zu sehen. Die Sonne scheint auf den jungen Roggen. „Etwas anderes verträgt den Boden hier nicht“, sagt Fischer. Seit 1975 lebt er als Pfarrer in Berlin-Wedding, direkt an der Mauer. Nur noch ein Stück ist erhalten, fast so wie es war, etwa 200 Meter. Metallplaketten der Denkmalschutzbehörde hängen daran. „Hier verlief nicht nur die Grenze von Wedding nach Mitte, von West nach Ost, genau hier“, sagt er und zeigt auf eine Bordsteinkante, „hier war die Grenze der Systeme.“

Nicht mehr viel Mauer in Berlin

Es gibt nicht mehr viel Mauer in Berlin. Das Stückchen an der Bernauer Straße, rückgebaut zur Grenzbefestigung, dazu die Gedenkstätte und die Versöhnungskirche. Ein paar Meter stehen noch in der Niederkirchnerstraße am Berliner Abgeordnetenhaus. Und es gibt die „East Side Gallery“, ein Stück Hintermauer an der Mühlenstraße, 1990 von Künstlern gestaltet. Von den 302 Grenzwachtürmen stehen noch fünf. Alles andere ist weg.

An ihrem Ende, am 9. November 1989, 18.57 Uhr, stand der Versprecher des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski. Bei einer Pressekonferenz über das neue DDR-Reisegesetz, antwortete er auf die Frage, wann denn die Neuregelungen in Kraft treten sollen: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Sofort berichteten Radio und Fernsehen, die Mauer sei „offen“, DDR-Bürger zogen zur Grenze, die Grenzsoldaten wussten von nichts. Immer mehr Menschen kamen zu den Übergangsstellen. Um 23.30 Uhr ließ ein Oberstleutnant den Grenzübergang Bornholmer Straße öffnen. Der Rest ist Weltgeschichte.

Drecksarbeit bei Hamburg gemacht

Die wirkliche Drecksarbeit jedoch, das Abreißen der Berliner Mauer in Windeseile, erledigte der Mann aus Wentorf in der Nähe von Hamburg: Rolf Ocken, Oberst, damals Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 16 „Herzogtum Lauenburg“. Im Kriegsfall hätten seine Soldaten Hamburg und Schleswig-Holstein vor den Truppen des Warschauer Paktes verteidigen sollen. Nun zog er allein nach Osten. Rolf Ocken ist jetzt 67, schon lange nicht mehr beim Militär. Ein freundlicher Mann, in dem noch ein ordentlicher Rest Panzertruppenkommandeur steckt. Jetzt steht er am Brandenburger Tor und erzählt. Wie es dann Knall auf Fall ging. Niemand hatte einen Plan, aber alle machten mit.

Am 28. oder 29. September schob ihm jemand einen Zettel rüber: „Der Minister hat Sie soeben zum Leiter des Zentralen Auflösungsstabes der Grenztruppen ernannt. Herzlichen Glückwunsch.“ Damit war der Oberst aus dem Westen Herr über angeblich 40 000 Soldaten der verhassten DDR-Grenztruppe geworden. Zwei Tage vorher war der Befehl ergangen, sämtliche Grenzbefestigungsanlagen entlang der innerdeutschen Grenze abzubauen. Von der Ostsee bis nach Sachsen. 1393 Kilometer. Inklusive Berlin.

Nun stand er plötzlich da. Bis zum 2. Dezember, dem Tag der ersten gemeinsamen Bundestagswahl, sollte er in Berlin die Mauer abreißen. Sechs bis acht Wochen Zeit hatte er. „Eigentlich war der Auftrag nicht erfüllbar.“ Er tat, was ein Kommandeur tut: kommandieren, telefonieren und improvisieren. Von den Grenzsoldaten, die ihre Grenze abbauen sollten, waren noch etwa 5600 übrig. Ihre Munition war längst eingesammelt worden, auch ein Großteil der Waffen. Mit 65 Kränen, 55 Baggern, 65 Lastwagen und 13 Planierraupen gingen 900 Männer an die Arbeit. Sie bekamen neue Befehle und legten los.

„Der Mauerabriss war eigentlich kein Problem“, sagt Ocken. Der Rest war viel komplizierter: Die Grenze im Süden der ehemaligen DDR, wo viele Minen verlegt worden waren und jetzt Pilzsucher umherzogen. Er hatte die Pläne der verlegten Sprengsätze und die Protokolle der Funde: Aber etwa 30 000 Minen fehlten. Während die Grenzer in Berlin die Mauer Segment für Segment abtrugen, 45 000 Stücke, ließ Ocken in Thüringen die Grenze pflügen, viermal und mehr. „Wir haben das sehr gründlich gemacht“, sagt er. Es ist nichts passiert.

Ocken sollte Mauer verkaufen

Bald bekam Ocken einen neuen Befehl: Er sollte die Mauer verkaufen, stückweise. Das tat er. Vorher gab es schon eine Firma Limex, die Mauerstücke weltweit verscherbelte. Die hatte einen richtigen Katalog. Einst verhasst, war die Mauer jetzt begehrt. Jeder wollte ein Stück. Heute gibt es vermutlich mehr Berliner Mauer weltweit als in Berlin: Im Garten des Papstes steht ein Stück, auf dem Parkplatz der CIA in Washington. Bill Gates besitzt ein Mauerstück, die Städte Riga und Moskau. Trotzdem war der Verkauf der Mauer ein Minusgeschäft. Das Schreddern kostete mehr, als der Erlös des Schotters einbrachte. „Jeder Diebstahl eines Segments kam den Staat günstiger“, sagt Ocken. Am 30. November 1990 wurde das letzte Mauerteil im bebauten Teil Berlins abgetragen. Im Blitzlichtgewitter hievte ein Kran in der Provinzialstraße das Stück in die Höhe. Die Schandmauer war weg.

Und Ocken? Er wurde zum General befördert, ging nach Bonn, bekam das Bundesverdienstkreuz am Bande. Nun steht er am Brandenburger Tor. Ein Held, den keiner erkennt. „Erfüllend“, sei es gewesen, sagt er zum Schluss. „Was für eine Wahnsinnszeit.“ Dann eilt er davon.

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