Der völlig unverfrorene Kindergarten

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An der Außenwand des Bauwagens haben die „Waldzwerge“ mit Wasser gefüllte Beutel aufgehängt, die zu einem „Eis-Aquarium“ werden.

An der Außenwand des Bauwagens haben die „Waldzwerge“ mit Wasser gefüllte Beutel aufgehängt, die zu einem „Eis-Aquarium“ werden.

„Frostköttel“ werden offenbar nicht genetisch geprägt. Unter kahlen Bäumen verlernen Kinder das Frieren.

Dienstagmorgen. Ein Blick aufs Thermometer zeigt: Nun hat Hoch „Claus“ auch Köln erwischt. Sechseinhalb Grad unter null zeigt die Skala, als Edith Klingsporn zu ihrer Arbeitskleidung greift. Drei Hosen, Ski-Unterhemd, Fleece-Shirt, Wollpulli, Thermojacke, Mütze. „Vorher war ich erheblich schlanker“, stellt die Erzieherin mit Blick auf all die Stoffschichten fest. Was soll's. Auch ihre Schützlinge wirken fülliger, als sie es tatsächlich sind. Wie kleine Michelin-Männchen stapfen sie herbei, eingemummelt von Kopf bis Fuß. Kein Kind zeigt eine frostige Miene. Weshalb auch? Das Wort „Kälte“ kennen die „Waldzwerge“ nicht. Willkommen in Kölns vollkommen unverfrorenem Kindergarten.

Zwei, drei Steinwürfe vom Decksteiner Weiher entfernt steht ein alter Rheinbraun-Bauwagen, der in erster Linie als Materiallager dient. An einer Wäscheleine trocknen sieben Paar Handschuhe in Wichtelgröße. Die Holzhöckerchen tragen indes kaum Gewicht. Paul, Lili, Rena, Emil, Celine und wie sie alle heißen, sind wie vorbildliche Zwerge natürlich im Wald. Wo sonst Heerscharen von Joggern ihre Runden ziehen, verstreuen sich an diesem Morgen nur ein paar Vermummte. Aber im Unterholz ist dafür heftig was gebacken. Pizzastücke, Möhren, Hähnchenschenkel und andere Dinge, die die Kinder in den verschiedenen Formen von Baumrinde entdecken. Das mitgebrachte Frühstück ist nicht halb so spannend.

„Unterholz“ ist ein fader Begriff aus der Erwachsenenwelt, den die Drei-, Vier- und Fünfjährigen nicht benutzen würden. Ihre Welt besteht aus einem Theater, einer Werkstatt, einer Geldfälscherei, einer Seilbahn, diversen Schiffen; Orte und Gegenstände, mit denen Kinder, die nur an vorgefertigtes Spielzeug gewöhnt sind, vielleicht wenig anfangen könnten. Denn es bedarf einiger Vorstellungskraft, um in den naturbelassenen Baumstämmen beispielsweise einen Schiffsrumpf und in den Blättern wahlweise Münzgeld oder kleine Küchlein zu entdecken.

Mit ihrer Fantasie mischen die Kinder den Wald neu auf. Oder gehen die Dinge ganz pragmatisch an. Wie Emil. Der Fünfjährige steht auf dem höchsten Punkt eines Ast-Häuschens und begutachtet die Löcher in der Abdeckung. „Wir müssen die Dachschäden, die in der Nacht passiert sind, reparieren!“ lautet sein Kommando an die anderen. Sofort verschwinden Rotkäppchen & Co. hinter Erdhaufen und Gestrüpp. Emil trägt weder Mütze noch Handschuhe. „Nee, mir ist wirklich nicht kalt!“ versichert das Kind mit leuchtenden Augen.

„Seine Eltern sind auch immer besorgt“, sagt die Erzieherin. „Aber ich kann versichern: Unsere Kinder sind ganz selten erkältet.“ Auch die klassischen Kinderkrankheiten, die in anderen Kindergärten oft Wellen schlügen, träten weniger häufig auf.

Die kleine Lili hat sich so in die Hängematte gewickelt, dass nur noch ein Mützenzipfel zu sehen ist, und schaukelt summend hin und her. Emil und Joel stehen stramm an Deck ihres Seeräuberschiffes und halten nach anderen Segeln Ausschau. An der Außenwand des Bauwagens hängt ein gutes Dutzend prall gefüllter Plastiktüten. In jede haben die Kinder am Morgen Wasser gefüllt und Blätter hinzugegeben, die sie als Fische betrachten. Nun warten sie, bis ihre Eis-Aquarien komplett durchgefroren sind.

Das ist Martina Schaab übrigens nie. Die Erzieherin mit den dicken, langen Zöpfen trägt eine vierfache Wollschicht nebst Angora-Nierengurt und hält amüsiert ein Glas mit Aquarell-Farbe hoch, an dessen Rand sich Eisblumen abzeichnen. Gottlob hat sich der Frost nicht überall so hart eingenistet, dass drei der insgesamt 14 Kinder trotzdem malen können. Die Mützen tief in die Stirn gezogen, pinseln sie in Ruhe Farbschicht über Farbschicht auf ihre Blätter, die später an der Wand des Bauwagens zum Trocknen aufgehängt werden. Für viele gehen die fünf Stunden bis halb zwei viel zu schnell vorbei. „Einige kommen praktisch nie in den Bauwagen, sondern wollen immer draußen bleiben“, sagt Edith Klingsporn, die manchem allzu ausdauernden Dreikäsehoch dann schon mal ein Iso-Kissen unter den Po schieben muss.

Auf Grund der trockenen Kälte sehen die Kinder übrigens noch durchweg manierlich aus. Da ist Martina Schaab anderes gewohnt. Auch von sich selbst. „Es ist schon mal vorgekommen, dass mir jemand auf dem Nachhauseweg eine Geldspende angeboten hat.“

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