Die Religion als Tragödie

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Amin Maalouf

Amin Maalouf

„Die Spur des Patriarchen“ ist das bislang persönlichste Buch des Autors.

Mit spannenden Historienromanen ist der Französisch schreibende Amin Maalouf, Jahrgang 1949, zum meistgelesenen libanesischen Schriftsteller geworden, und zwar in Europa wie auch in der islamischen Welt. So populär und zugänglich seine Bücher sind, so behandelt er doch stets ernste Themen, etwa die religiöse Fanatisierung und die gewaltsamen Konflikte von Ost und West. Gerne greift er dabei auf reale geschichtliche Persönlichkeiten zurück, wie Leo Africanus im gleichnamigen Roman oder Omar Chayyam (in „Samarkand“). In letzter Zeit hat ihn das faszinierende Völker- und Religionsgemisch des Libanon beschäftigt, der bis heute mit den religiösen Erblasten des osmanischen Reiches zu kämpfen hat. Sein letztes Buch, der in osmanischer Zeit spielende Historienroman „Die Reisen des Herrn Baldassare“ erschien vor vier Jahren.

Jetzt hat die Wartezeit der Maalouf-Fans ein Ende. Noch schöner: Erstmals seit langer Zeit geht er wieder auf Lesereise. Die Vermittlung seines neuesten Buches, „Die Spur des Patriarchen“, liegt ihm nämlich besonders am Herzen. Kein Wunder! Es ist sein bislang persönlichstes Buch. Liest man es, so könnte man meinen, Maalouf verfolge die deutsche Gegenwartsliteratur, wo die Autoren seiner Generation ebenfalls auf die Suche nach ihren Eltern oder Großeltern gehen - und zwar mit ganz ähnlichen Mitteln.

Auch Maalouf stöbert in seinem neuen Roman in Familienarchiven, liest alte Briefe, befragt die letzten überlebenden Verwandten und besucht die Schauplätze, an denen die Vorfahren gewirkt haben. Und auch sein Ziel ist es, ein selbstkritisch durchdachtes Verhältnis zu dieser Vergangenheit zu gewinnen und dadurch etwas für die Gegenwart zu lernen. Während die Spurensuche deutscher Autoren meist die Zeit des Nationalsozialismus betrifft, führen die Forschungen von Maalouf in die osmanische Zeit zu seinem Großvater Botros, der 1924 im Alter von 56 Jahren starb.

Aus einem unscheinbaren Dorf in den libanesischen Bergen stammend, erhält Botros in einer von protestantischen Missionaren gegründeten Schule eine für damalige Verhältnisse hochmoderne Bildung. In der sehr traditionellen Welt der libanesischen Christen wird er Ende des 19. Jahrhunderts als Lehrer und Schuldirektor zum Vorreiter von Aufklärung, Säkularisierung und modernen westlichen Werten. Noch vor dem ersten Weltkrieg gründete er eine „Universalschule“, wo er Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichten ließ. Eine völlig unerhörte Neuerung für die damalige Zeit, was zu einem zermürbenden Kulturkampf mit den Vertretern der kirchlichen Konkurrenzschule führte. Ebenso unerhört, ja geradezu skandalös war, dass er seine Kinder nicht einmal taufen ließ: Sollten sie später selber entscheiden, welcher Religion sie angehören möchten!

Was Amin Maalouf an seinem unbekannten Großvater fasziniert, ist diese Fortschrittlichkeit seines Denkens. Dennoch wird Botros nicht glorifiziert. Er hatte nämlich auch seine fragwürdigen Seiten. Im Willen, alle Welt aufzuklären und von der Religion zu befreien, erwies er sich seinerseits als Fanatiker und bewirkte dadurch oft das Gegenteil dessen, was er beabsichtigte. So scheute er sich zum Beispiel nicht, seine neugeborene Tochter dem Gespött der Leute preiszugeben, indem er sie nach seinem Vorbild Kemal Atatürk „Kamal“ nannte, obwohl dies eindeutig ein Männername ist.

Fazit der Großmutter

Bezeichnenderweise stammt das Fazit des Buchs daher auch nicht von Botros, sondern von seiner Frau, Amin Maaloufs Großmutter Nazeera: „Das Fehlen von Religion ist für die Familie eine Tragödie, ein Übermaß davon jedoch ebenfalls.“ Und Maalouf fährt in seinen eigenen Worten fort: „Heute bin ich fest davon überzeugt, dass dies für alle menschlichen Gesellschaften zutrifft.“

Um die Geschichte seines Großvater spannend zu machen, greift Maalouf zu einem Trick: Er erzählt diese Geschichte nämlich nicht direkt, sondern indem er von sich und seinen Nachforschungen erzählt, über seine Scheu dabei und die verschlungenen Wege dieser Spurensuche, die ihn sogar nach Kuba treibt. Der Leser weiß daher immer nur so viel wie der Autor, der durch die Straßen von Havanna streift und eine Entdeckung nach der anderen macht, bis er schließlich einen vergessenen Verwandten trifft, der sich auf einem alten Foto wiedererkennt.

Auf unterhaltsame Weise erfährt man so aus Maaloufs Buch viel über die Geschichte des Nahen Ostens und die hartnäckigen Versuche von Einzelgängern wie Botros, den Orient zu modernisieren, koste es, was es wolle. Man wird sagen dürfen, dass sich auch Amin Maalouf mit den Zielen seines Großvaters identifiziert. Aber das Mittel, dessen er sich bedient, um dieses Ziel zu erreichen, ist wesentlich feiner: Es ist die Literatur.

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