Eine engagierte Rebellin

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Doris Lessing

Doris Lessing

ksta.tv: Doris Lessing erhält Nobelpreis für Literatur

Hoch aufgerichtet auf einem schmalen Holzstuhl sitzt die Frau und blickt, das schöne Gesicht von in der Mitte streng gescheiteltem grauen Haar umrahmt, selbstbewusst in Richtung Publikum. Sie genießt sichtlich das Privileg ihrer 87 Lebensjahre. „Als junge Frau dachte ich, dass alte Menschen Muße und Weisheit haben“, sagt Doris Lessing: „Jetzt bin ich alt und merke, dass nichts davon stimmt.“ Die Fan-gemeinde im Berliner Haus der Festspiele, meist auch schon grauhaarig, viele in Begleitung unruhig umherrutschender Enkel, lacht etwas unsicher. Ist das jetzt ernst gemeint? Oder droht die Ironiefalle?

Doris Lessing lobt die Rolle der Großmutter als geborene Vorleserin für die nachwachsende Generation, spricht enthusiastisch über ein Rezept für Tomatensuppe mit Tomaten, „die in richtiger Sonne gereift sind und auch noch nach richtigen Tomaten schmecken“. Harte Nachfragen aus dem um Beistand fiebernden Publikum nach amerikanischen Großmachtsünden, britischer Innenpolitik oder der Zukunft Afrikas überhört die große Dame der Literatur an diesem Abend. Lessing kokettiert gekonnt mit ihrem Alter, weiß genau, dass sie blendend aussieht, eine wahre Altersschönheit, streicht den notorischen geblümten Rock glatt und möchte heute lieber allgemein bleiben.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Die (unfreiwillige) Jeanne d'Arc des Feminismus lässt die Waffen ruhen. Stattdessen sagt sie: „Alle Erkenntnisse liegen ausgebreitet vor uns. Wir müssen nur die richtigen Schlüsse ziehen“ und freut sich ganz offensichtlich über diese gelungene Binsenweisheit. Es wird viel gelacht an diesem Abend. So ähnlich wird sich Bertolt Brecht seine „unwürdige Greisin“ gewünscht haben. Die älteren Frauen seien die Feinde der jungen Frauen, hatte Lessing einmal gesagt - und zwar aus Eifersucht.

30 Jahre zuvor war der Name „Doris Lessing“ wie ein Signal für bessere Zeiten durch die Hörsäle und Mensen deutscher Universitäten gerauscht. „Das goldene Notizbuch“, ein goldfarbenes Fischer-Taschenbuch im Ziegelsteinformat, gehörte auf jedes Bücherbrett. Wer das „Goldene Notizbuch“ nicht kannte, galt im Zeitalter von lila Latzhosen und sprachwissenschaftlichen Seminaren über weibliche Sprache einfach als nicht satisfaktionsfähig. Gleich auf Seite zwei das Foto der Autorin, die so aussah, wie vielleicht Rosa Luxemburg als Frau von damals 57 Jahren ausgesehen hätte. Der Roman entfaltet ein wahres Panorama weiblicher Intellektualität. Die Protagonistin, die Schriftstellerin Anna Wulf, hinter der man leicht die Autorin erkennt, notiert in ihren schwarzen, roten, gelben und blauen Tagebüchern ihre afrikanischen, politischen, literarischen und privaten Reflexionen, hebt diese quälende Trennung dann aber im finalen goldenen Notizbuch wieder auf.

Ihrer Zeit voraus

Was von Frauen in den siebziger Jahren gedacht, gehofft, befürchtet worden war, Doris Lessing hatte es zehn Jahre zuvor schon aufgeschrieben. Ob all die Hunderttausend deutschen Exemplare des dicken Buchs, das bereits 1962 in England erschienen war, tatsächlich gelesen wurden, mag man bezweifeln. Doch die Biografie der Autorin wurde als geradezu mustergültig für gelebten Feminismus empfunden: Ausbruch aus dem Nonnenkloster und gleich zwei unglückliche Ehen samt Zurücklassung zweier Kinder, durchgeschlagen als Kindermädchen und Telefonistin, aktive Kommunistin in London, aber rechtzeitig (nämlich 1956) geläutert. Immer rebellisch, immer kämpferisch, selbständig, selbstbewusst, bei allen Zweifeln aber stets dem Leben und den Männern durchaus zugewandt. Und im „Goldenen Notizbuch“ versprachen die Kapitelüberschriften „Ungebundene Frauen“ (Folgen 1 bis 5) erprobte Rezepte für ein selbstbestimmtes Leben.

Hinter der eminenten Figur der Autorin verschwand das Werk ein wenig. Dabei war Doris Lessing zu dem Zeitpunkt, als ihr „Goldenes Notizbuch“ zur Bibel der Frauenbewegung aufstieg - worauf Lessing übrigens bis heute mit Unverständnis reagiert - schon eine bekannte und geachtete Autorin. Mit dem Buch „Afrikanische Tragödie“ (auf Englisch lautete der weitaus poetischere Titel „The Gras is Singing“), das den Rassismus in Südafrika zum Thema hatte, verarbeitete die 1919 als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers geborene Autorin ihre afrikanischen Jahre. Auch der fünfbändige Romanzyklus „Kinder der Gewalt“ um die Heldin Martha Quest, zwischen 1951 und 1969 erschienen, ein großer Bildungs- und Zeitroman des 20. Jahrhunderts mit biografischem Hintergrund, wurde erst nach dem Erfolg des Notizbuchs in Deutschland so recht wahrgenommen, dann aber förmlich mit Lob überschüttet.

Bis ins hohe Alter sehr produktiv

Bis ins hohe Alter bleibt Doris Lessing eine ungemein produktive Autorin. Fast jedes Jahr erscheint ein Roman. Nicht alles ist gelungen. Doch die Autorin Doris Lessing hat sich in der Weltliteratur etabliert und wird immer wieder auch als rebellische Intellektuelle („Wo eine Autorität ist, widersetzt du dich.“) gefeiert. Mal bekommt der britische Ex-Premierminister Tony Blair sein Fett weg („Er hat ein Daddy-Problem, immer rennt er alten, wichtigen Männern hinterher“), mal die mediengerechten Konkurrentinnen im Literaturbetrieb: „Der ideale Schriftsteller ist heute 22, weiblich, sehr hübsch und telegen, da ist es völlig egal, ob sie Mist schreibt.“

Die Zumutung, von ihrem englischen Vaterland in den Adelsstand erhoben zu werden, hat sie empört zurückgewiesen: „Nein, eine Dame werde ich nie.“ Filmreif ist die Biografie der Schriftstellerin. 1944 heiratete sie - in zweiter Ehe - den deutschen Emigranten und KP-Aktivisten Gottfried Anton Nicolai Lessing. Ob aus Liebe oder um dem Nazifeind das Überleben in Rhodesien zu ermöglichen, ist heute nicht mehr ganz klar. 1949 ließ sich das Paar scheiden. Lessing wurde - als DDR-Botschafter in Uganda - bei Unruhen nach dem Sturz von Diktator Idi Amin 1979 ermordet. Und weil er der Bruder der Mutter des PDS-Mitbegründers Gregor Gysi war, ist Doris Lessing also die angeheiratete Tante und findet den Politiker Gysi heute, obwohl sie ihn nur selten gesehen hat, „ganz nett“.

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