EpigenetikWie wir unsere Gene verändern können

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Epigenetik-Experte Peter Spork. (Bild: Privat)

Epigenetik-Experte Peter Spork. (Bild: Privat)

Unser Autor ist Biologe und Wissenschaftsautor.Für sein Buchmischte sich der Autor zwei Jahreunter die Epigenetiker.

Manche Ratten sind anders als die anderen. Sie treten aggressiv, ängstlich, reizbar, ungesellig und hypernervös auf. Andere Versuchstiere wiederum zeigen sich besonders mutig, kuschelbereit, freundlich und auch lernfähig.

Der kanadische Hirnforscher und Verhaltensbiologe Michael Meaney an der McGill University in Montréal weiß genau, warum das so ist: Die Mütter der ängstlichen Tiere haben sich in den ersten acht Tagen nach der Geburt nicht ausreichend um die Kleinen gekümmert. Es sind so genannte „non licking mothers“ - Mütter, die ihren Nachwuchs nicht lecken. Die mutigen Tiere hingegen wurden in diesem Zeitfenster von ihren Müttern besonders gut umsorgt. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um ihre eigenen Kinder handelte oder nicht: Vertauschten die Forscher die Jungen, wurden immer jene Ratten zu ängstlichen Tieren, deren Mütter sie vernachlässigten - ganz egal ob sie mit ihnen verwandt waren oder nicht.

Es sind also nicht die Gene, die für die massiven Charakterunterschiede bei den Versuchstieren verantwortlich sind, sondern deren erste Erfahrungen. Die Zeit nach der Geburt scheint eine besonders sensible Phase zu sein. Offenbar treffen ihre Gehirnzellen dann ein paar grundsätzliche und größtenteils bleibende Entscheidungen.

Licking-and-grooming-Experimente

Diese Erkenntnis war eigentlich nicht neu, als Meaney und seine Kollegen Ian Weaver und Moshe Szyf ihre Resultate im Jahr 2004 publizierten. Berühmt und vielzitiert wurde die Studie, weil sie als erste zeigen konnte, dass das gegensätzliche Verhalten der Nager sich in Veränderungen des epigenetischen Musters von Gehirnzellen widerspiegelt. So genannte licking-and-grooming-Experimente gab es bereits Ende der 1990er Jahre. Sie heißen so, weil die mütterliche Fürsorge bei Ratten denkbar einfach zu messen ist: anhand der Häufigkeit, mit der eine Mutter ihre Jungen leckt (licking) und putzt oder krault (grooming). Mit diesen Aktionen vermittelt sie ihren Jungen das Gefühl von Geborgenheit, das sie so dringend brauchen. Denn je geborgener die Kleinen sich fühlen, desto stabiler begegnen sie zukünftigen Bedrohungen und desto ausgeglichener sind sie. Da die Erfahrungen der ersten Tage sich tief in ihr Gehirn „einbrennen“, hält dieser Effekt - sofern nichts Außergewöhnliches dazwischen kommt - zeitlebens an.

Meaney und Kollegen entdeckten 2004, wie das „Einbrennen“ der Information auf der epigenetischen Ebene funktioniert. Die ersten Erlebnisse beeinflussen in einer wichtigen Gruppe von Hirnzellen das Muster der Methylgruppen an der DNA und die Histonmodifikationen an einem bestimmten Gen. Dadurch kann dieses Gen mehr oder weniger gut abgelesen werden. Und dieses Gen enthält ausgerechnet den Bauplan einer Andockstelle für das Stresshormon Cortisol.

Angst, Aggression, Stress

Wie die Kanadier in einem nächsten Schritt zeigten, haben die Jungen der „non licking mothers“ tatsächlich besonders wenig Stresshormon-Andockstellen im Hippocampus, einer zentralen Gehirnregion, deren Aufgabe das Erinnern und Verarbeiten von Erfahrungen ist. Dadurch schüttet ihre Hirnanhangdrüse auch schon bei vergleichsweise geringen Belastungen ungewöhnlich viele Signale zur Erhöhung des Stresshormonspiegels ins Blut. Das erklärt, warum die vernachlässigten Tiere stressanfälliger sind als die häufig abgeleckten. Für sie sind manche Ereignisse bereits belastend, die andere Ratten noch nicht mal aus der Ruhe bringen. Ihr Charakter wandelt sich, sie werden ängstlich, aggressiv und können mitunter sogar schlechter lernen, weil unter dem Dauerbeschuss des Gehirns mit Cortisol ganz nebenbei sogar die Lernzentren leiden.

Nicht nur das Cortisol wirkt auf den zweiten Code, ist Michael Meaney überzeugt: „Vergleicht man die Genaktivität im Hippocampus der erwachsenen Nachkommen von Ratten, die ihre Jungen besonders viel oder besonders wenig geleckt und gepflegt haben, so zeigen sich Unterschiede bei ein paar hundert Genen. Das legt nahe, dass die Intensität der mütterlichen Zuneigung das epigenetische Programm im Gehirn der Nachkommen im großen Stil verändert.“

Wie das Glück verteilt ist

Auch Serotonin und Dopamin gehören zu den Stoffen, die Laune, Persönlichkeit und Temperament von Tier und Mensch beeinflussen. Da die beiden Hormone die Stimmung aufhellen, werden sie oft als „Glückshormone“ bezeichnet. Sie haben viele verschiedene Aufgaben. Eine der Wichtigsten: Als zentraler Bestandteil unseres Belohnungssystems sorgen sie für das angenehme Gefühl, das wir immer dann empfinden, wenn das Gehirn entscheidet, wir hätten etwas gut gemacht - sei es nach dem Essen, nach Sex, oder nach einem netten Gespräch. Auch Drogen wie Kokain und Nikotin beeinflussen das Belohnungssystem, ebenso der viele Zucker in Schokolade und Gummibärchen.

Der Franzose Michel Barrot von der Universität Straßburg untersuchte mit einem internationalen Forscherteam zum Beispiel Ratten, die mehrere Monate alleine leben mussten. Sie wurden antriebsschwach, ängstlich und hatten weniger Lust, sich zu paaren. Als wahrscheinlichste Ursache für dieses abgestumpfte Verhalten fanden die Forscher eine epigenetische Veränderung in den Nucleae Accumbens. Das sind kleine Teile des Gehirns, die das Dopamin ausschütten und damit als grundlegendes Motivationszentren fungieren.

Es gibt weitere Hirnregionen, die direkt auf Dopamin, aber zum Beispiel auch auf Serotonin oder das Stresshormon Noradrenalin, ansprechen. Dazu gehören die zentralen Angst- und Emotionszentren Amygdalae, wegen ihrer Form auch Mandelkerne genannt. Dass auch hier Entscheidungen über die Persönlichkeit eines Menschen fallen, konnte im Jahr 2008 ein Forscherteam um Thorsten Kienast von der Abteilung für Psychiatrie an der Charité in Berlin zeigen. Die Wissenschaftler erfassten zunächst die Dopaminkonzentration in den Mandelkernen von Testpersonen. Dann überprüften sie, wie ängstlich die Probanden auf schreckliche Bilder, beispielsweise von einem Autounfall, reagierten. „Je mehr Dopamin in der Amygdala vorhanden war, desto mehr Angst verspürten die Testpersonen beim Anblick der Bilder“, beschreibt Kienast das Ergebnis. Nun vermuten die Forscher, eine wichtige Ursache dafür gefunden zu haben, dass Menschen psychisch so verschieden sind: „Die Dopaminmenge ist bei jedem Menschen anders“, erklärt Kienast. Das erkläre zumindest zum Teil, warum die einen grundsätzlich ängstlicher sind als andere. Doch wo kommen die Unterschiede im Dopaminsystem her? Eine Antwort liefert einmal mehr die Epigenetik: Wenn ihre Schalter auch nur einen Bestandteil der komplexen Selbstbelohnungsmaschinerie stilllegen, kann ein Mensch plötzlich sehr viel mutiger oder ängstlicher werden als zuvor.

Mut lässt sich lernen

Zum Glück aber fahren die molekularbiologischen Prozesse zur Ausbildung eines Charakters nicht auf einer Einbahnstraße. Auch das konnte Michael Meaneys Team mit seinen Rattenexperimenten zeigen: Die Forscher gaben den vernachlässigten Tieren chemische Stoffe, die die Histonstruktur sowie das Methylierungsmuster verändern - und damit den epigenetischen Code der Hirnzellen. So gelang es ihnen, aus ängstlichen Nagern wieder ganz normale Tiere zu machen. Das ist ein klarer Beleg dafür, dass das ungewöhnliche Verhalten der Tiere tatsächlich auf den zweiten Code zurückzuführen ist.

Der pharmazeutische Weg ist jedoch nicht der einzige, um Versuchstiere wieder mutiger und geselliger zu machen. In einigen Experimenten setzten die Forscher ihre ängstlich-aggressiven Ratten für längere Zeit in eine so genannte „angereicherte Umwelt“ (enriched environment). Dort hatten die Tiere viel Platz und Gelegenheit zum stressfreien Spielen, Toben und Erkunden in anregender, abwechslungsreicher Umgebung mit vielen „Spielsachen“. Und dort wurden sie nach und nach wieder normal. Das Epigenom kann also umlernen.

Stress und Krankheiten

Eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 zeigt, dass sich traumatische Erlebnisse während der frühen Kindheit sogar auf das Immunsystem auswirken. Elizabeth Shirtcliff von der Princeton University, USA, verglich 80 Kinder im Alter von neun bis 14 Jahren, die zeitlebens in stabilen Verhältnissen aufgewachsen waren, mit 75 gleichaltrigen Kindern, die einen Teil ihrer frühesten Kindheit im Heim verbracht hatten oder wiederholt körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen waren. Sie stellte fest, dass die Mitglieder der ersten Gruppe signifikant weniger Antikörper gegen Herpes-Simplex-Viren im Blut hatten, obwohl auch die Mitglieder der zweiten Gruppe schon lange in geregelten Verhältnissen lebten. Ein erhöhter Antikörpergehalt gegen dieses Virus gilt als Indikator einer insgesamt geschwächten Krankheitsabwehr.

Ist die so genannte Stressachse erst einmal falsch programmiert, kann das eines Tages fatale Folgen haben. Die Kinder sind dann im späteren Leben besonders angreifbar für Belastungen aller Art. „Dadurch werden sie auch empfindlicher für alle Krankheiten, die mit extremem Stress zusammenhängen, zum Beispiel Depressionen, Schlaflosigkeit, Herzinfarkt, Fibromyalgie, Allergien oder Diabetes“, weiß Hellhammer.

Buchtipp

Peter Spork:„Der zweiteCode. Epigenetik– oder wiewir unser Erbgutsteuern können“,Rowohlt,304 Seiten,19,90 Euro, abZuwendung verändert den zweiten Code, meinen die Epigenetiker.

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