Familie Müller oder ein Leben am Todesstreifen

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Großburschla – Wie oft hat Reinhard Müller an jenen lauen Sommerabend vor 22 Jahren zurückgedacht. Wie oft darüber gegrübelt, was ihn zu der Tat verleitet hatte: War es Schicksal, war es zu viel Schnaps? Damals, in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1979 hatte Reinhard Müller tatsächlich zu viel getrunken. 19 Jahre alt war er, Lehrling im Automobilwerk Eisenach. Es war ein angenehmer Sommerabend in Großburschla, seinem Heimatdorf. Sein Kumpel Hartmann wollte in seinen Geburtstag hineinfeiern. Die Clique war da, man hockte im Garten und im Tanzsaal, trank Nordhäuser Doppelkorn, das Bier schmeckte nicht. Und dann war Müller irgendwann in der Schenke, traf dort seinen Lehrer für Staatsbürgerkunde. Es gab einen Streit, Müller weiß heute nicht mehr, worum es ging. Aber einige seiner Kumpel sagten, er sei wohl verrückt geworden, so zu reden. Hartmanns Geburtstagsfete zog sich hin. Gegen zwei Uhr nachts schlief Müller draußen auf einer Bank ein. Gegen vier Uhr wurde er wach. Er war allein. Tau lag auf den Wiesen, es war kühl geworden und nebelig. Reinhard Müller bekam Angst. Was hatte er mit seinem Lehrer geredet? Hatte er über die DDR hergezogen? Müller war immer noch halb betrunken, und was ihn dann in Marsch gesetzt hat, weiß er bis heute nicht.

Er torkelte los, über den Fußballplatz zum Pappelhain, von dort durchs Gras zum Werraufer. Niemand hörte ihn, niemand sah ihn. Er musste keine Grenzzäune übersteigen, die 40 Meter breite Werra führte direkt zur Grenze. In seinen Stasi-Akten las Müller Jahre später, der Uferbewuchs sei zu hoch gewesen. Die beiden Wachsoldaten im Bunker an der Werra hätten geschlafen. Außerdem sei der Hauptsuchscheinwerfer defekt gewesen. Müller ließ sich ins kalte Wasser gleiten, ließ sich treiben, stieß sich manchmal mit den Händen vom Kiesboden ab. 800 Meter und eine Stunde später war er in Alten¦burschla, Hessen, Bundesrepublik Deutschland, Freiheit. Er klingelte einen Bauern aus dem Bett, der ihn dann zur Tante Liene schickte, die auch in Altenburschla lebte.

Eine Blase nach Hessen

„Ich habe mich für ein neues Leben entschieden“, sagt Müller heute. Er steht am Werraufer, genau dort, wo er sich vor 22 Jahren davontreiben ließ. Nach seiner Flucht wurden hier zwei Brücken gebaut, mit Gittern bis auf den Flussboden. Man erkenne fast nichts mehr, sagt er. „Alles weg, sogar der Bunker.“ Die Eltern sollten bitter bezahlen für die Flucht ihres Sohnes. Großburschla, heute 1300 Einwohner, kleine Fachwerkhöfe, eine Fachwerkkirche und fünf Gasthäuser, lag zu DDR-Zeiten in der 500-Meter-Sperrzone. Der Ort 28 Kilometer nördlich von Eisenach war eine Blase der DDR, die sich ins Hessische stülpte. Ein Dorf im Ostblock, umgeben von hessischen Wäldern. Nach dem Krieg zuerst von Amerikanern besetzt, dann von den Sow¦jets. 1951 bauten sie eine Straße in die Blase hinein. Bis dahin war Großburschla nur über Straßen des Klassenfeindes erreichbar. Viele Bewohner verstanden: Ungefähr 600 machten sich auf und davon, Richtung Eschwege, Kassel, Göttingen. Die Bauern, Handwerker und Gärtner blieben zurück.

Am 13. August vor 40 Jahren Jahren zogen sie einen hohen Zaun zwischen Ost und West. Über Nacht ging das. Die Bauern merkten am nächsten Morgen, dass 100 Meter Ackerland und Weiden fehlten. Das war der neue Grenzstreifen. Die Soldaten bauten einen Stacheldrahtzaun mit zwei Meter hohen Pfeilern. Später kamen zwei weitere Zäune dazu. Eine Kompanie Grenzsoldaten wurde in den Zipfel verlegt. Fritz und Magda Müller wohnten damals schon in ihrem umgebauten Fachwerkhaus. Sohn Reinhard war gerade ein Jahr alt, Vater Fritz, Jahrgang 1929, arbeitete zunächst als Feldbrigadier in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), dann als Polsterer. Er war ausgezeichnet worden, war Aktivist und Bestarbeiter. Er hing an Groߦburschla, dem kleinen Dorf im Thüringer Hügelland, trotz aller Schikanen, trotz der Isolation in der Sperrzone. Außer Verwandten ersten Grades durfte kein DDR-Bürger in die Sperrzone reisen. Und auch Kinder und Eltern von Groߦburschlanern nur mit besonderen Passierscheinen, die Wochen vor dem Besuch beantragt werden mussten. Große Familienfeiern gab es nicht, keine Kirmes, keinen Karneval. Um 23 Uhr war Sperrstunde.

Fritz Müller, heute 71 Jahre alt, sitzt im Wohnzimmer und erzählt, was dann passierte, als sein Sohn geflohen war. Er hat seinen Nachbarn dazu gerufen, den früheren LPG-Vorsitzenden Heinrich Arnoldt, und seinen Schwager Erich Luhn. Sie sollen dabei sein und auch erzählen, was damals geschah, als der Reinhard abgehauen war. Lange ist es her und doch so nah, dass dem alten Mann immer wieder Tränen in die Augen schießen. Am Tag nach der Flucht kam die Volkspolizei. Im Dorf wusste man von der Flucht. Reinhard hatte eine Frau mit Telefon aus dem Westen angerufen. Vater Fritz war dann zur Polizei gegangen und hatte gemeldet, dass sein Sohn weg sei. Polizisten kamen, durchsuchten das Haus, verhörten die Müllers, fanden nichts und zogen ab. Aber die Polizei, der Rat des Kreises, die SED, der Bürgermeister vergaßen nicht. Für sie war die Flucht eine Provokation, verübt in der Nacht zum 1. Juli, dem „Tag der Volkspolizei“.

Mehr als drei Jahre später kamen sie dann: An jenem 20. Juli 1982 war Großburschla voller Volkspolizisten. Fritz Müller wurde in der Polsterei festgenommen, nach Eisenach ins Gefängnis gebracht, während zehn Polizisten das Haus leerräumten. Die Familie sei „nicht mehr tragbar“ in Großburschla, hatte ein Polizist gesagt. In drei Autos wurden die Müllers in den Norden umgesiedelt, nach Spiegelberg bei Pasewalk. Ihr jüngster Sohn Peter, damals sechzehn, war gerade auf Schulabschlussfahrt in Berlin, als die Polizei ihn abholte. Man steckte sie in ein altes Schäferhaus und wies Fritz Müller Arbeit in einer Polsterfabrik zu. Den Leuten dort sagte man, es kämen Asoziale und Drogenhändler. Die Müllers waren nicht die Einzigen, die an diesem Tag aus Großburschla weggebracht wurden. Auch zwei andere Familien erwischte es am 20. Juli 1982. Insgesamt 17 Familien in Großburschla seit dem Bau von Zaun und Mauer, 50 000 Menschen in der Sperrzone DDR-weit. Der SED-Staat wollte an diesem Tag „ein Exempel statuieren“, erinnert sich Fritz Müller. Ein Nachbar verkraftete es nicht und erhängte sich.

Eine Schleife mit Kokarde

Fritz Müller ist wahrscheinlich der einzige, der sich gegen die SED behaupten konnte und es geschafft hat, in sein Grenzdorf zurückzukommen. Ihm war Unrecht widerfahren, aber er wollte es nicht schlucken. Fünf Jahre dauerte sein Kampf. Unendlich viele Briefe hat Müller geschrieben und sich über die Ungerechtigkeit beklagt. An die SED-Kreisleitung, an einen General, schließlich an Honecker selbst. An die Bischöfe von Magdeburg und Eisenach, die es schließlich schafften, dass die Familie heimkehren durfte. Fünf bittere Jahre. „So etwas vergisst man nie im Leben“, sagt Müllers Frau Marga. „Man hat uns wie Schwerverbrecher behandelt.“ Dass es anders kam und sich zum Guten wendete, es war ein „kleines Wunder“, sagen die Müllers. Dass im November 1989 der Grenzzaun fiel und sich die Familie wieder fand, ist für sie „das große Wunder“.

Am Garderobenspiegel der Müllers hängt eine schwarz-rot-goldene Schleife mit Kokarde seit jenen Tagen. „Erinnerung an den Tag der Freiheit, 9. November 1989“, steht darauf. „Seit damals hängt das hier“, sagt Fritz Müller. Von der ehemaligen Grenze ist in Großburschla nichts mehr zu sehen. An der Werra wachsen kniehohe Brennnesseln. Nur in manchen Gärten stehen runde Komposter aus rautenförmigem Drahtgeflecht. Der helle Draht sei vom Signalzaun, der dunkle vom Grenzzaun, erklärt Reinhard Müller, als er von seinen Spaziergang zur Werra zurückkommt. Gerade so, als sei es das Normalste von der Welt.

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