Heinrich BöllDie Verteidigung der Kindheit

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Das Geburtshaus von Heinrich Böll in der Kölner Südstadt: Teutoburger Straße 26/Ecke Alteburger Straße. (Bild: Worring)

Das Geburtshaus von Heinrich Böll in der Kölner Südstadt: Teutoburger Straße 26/Ecke Alteburger Straße. (Bild: Worring)

Als Heinrich Böll vor 25 Jahren starb, war ich mit meiner Frau in einem kleinen abgelegenen Urlaubsort in Süditalien. Dort gab es keine deutschen Zeitungen. Aber wir hatten genügend Bücher dabei und vermissten nichts. So erfuhren wir von Bölls Tod erst, als wir uns bei einem Badeausflug ans Meer eine deutsche Zeitung kauften. Die Beerdigung, zu der viele Schriftsteller und Repräsentanten der Kulturszene nach Köln gekommen waren, hatte bereits stattgefunden. Da ich Bölls Lektor gewesen war, hatte man mich vermutlich vermisst. Vielleicht hätte ich bei der Trauerfeier auch einige Worte sagen müssen über unsere Zusammenarbeit, die trotz markanter Unterschiede unserer Denkweisen oder vielleicht sogar wegen dieser Unterschiede produktiv gewesen war.

Böll war der letzte Autor, dessen Manuskripte ich bearbeitet habe. Um mich ganz dem eigenen Schreiben zuwenden zu können, hatte ich in einem langen Übergangsprozess immer mehr Verlagsaufgaben an meine Mitarbeiterin und Nachfolgerin Renate Matthaei abgegeben, die dann auch Bölls letztes Buch „Frauen vor Flusslandschaft“ lektorierte. Es war eine heikle Aufgabe, denn das Manuskript zeigte, deutlicher noch als die vorausgegangenen, unverkennbare Erosionsspuren. Böll hatte es mit letzter Kraft geschrieben und war kurz nach seinem Erscheinen gestorben.

Nicht lange vor unserer Abreise in den Urlaub sahen meine Frau und ich Böll zum letzten Mal auf einem Empfang. Er war krank und wirkte erschöpft. Zu meiner Frau hatte er gesagt: „Ich hab keine Lust mehr.“ Es sollte wohl heißen, „keine Lust mehr, der zu sein, zu dem man mich gemacht hat. Und ich habe auch keine Kraft mehr, diesen Erwartungen zu entsprechen.“ Aber er hatte es bis zuletzt versucht. Warum? Weil der Beruf des Schriftstellers kein Beruf ist, den man als Rentner an den Nagel hängen kann. Schreiben ist für den Autor seine Art, in der Welt anwesend zu sein, bis zum Verschwinden.

Familiären Berichten zufolge war Böll als das jüngste Kind der strahlende Mittelpunkt der großen Familie, ein geliebtes, bewundertes Glückskind, das durch seine Natürlichkeit und offenbar auch durch seine Hübschheit überall Sympathien erweckte. So ins Leben aufgenommen worden zu sein war ein emotionales Kapital, das später in der Spontaneität und der spielerischen Leichtigkeit seines Schreibens und der Vielfalt seiner Einfälle zum Ausdruck kam. Das gilt vor allem für die kurzen satirischen Texte mit ihren grotesken, karnevalistischen Zuspitzungen verrückten Denkens und Handelns. Es gilt aber auch für die Meinungsfreude und Radikalität seiner zeitkritischen und polemischen Texte. Beim Lesen spürt man den Drive, mit dem sie geschrieben wurden. „Er ist ja so sicher“, hat einmal Joachim Kaiser zu mir gesagt.

Es gibt auch eine Gegentendenz in den Erzählungen und - mit zunehmender Sentimentalität und Abstraktheit - in den Romanen; Bölls Neigung, seine Geschichten als moralische Beispiele zu inszenieren. Das hat seine Literatur lange Zeit zu beliebten Schulbuchtexten gemacht, weil sich darüber gut räsonieren lässt. Das war aber kein Kalkül des Autors, sondern der Ausdruck und die Konsequenz einer traumatischen Erfahrung in seiner frühen Kindheit: die Erinnerung an die Inflation von 1923, die zum Bankrott des väterlichen Geschäftes führte, so dass die Familie ihre Wohnung verlassen musste, um mit Handkarren, beladen mit dem restlichen Hab und Gut, in ein ärmliches Quartier umzuziehen.

Böll hat diese Vertreibung aus seinem Kindheitsparadies als Abenteuer und als familiäres Unglück erlebt. Alles, was darauf folgte - die Nazizeit, der Krieg und die Zerbombung von Köln - hat er als eine Fortsetzung dieser Ursprungserfahrung gesehen und daraus sein kontroverses Lebensthema gemacht. Christian Linder hat es in einem lesenswerten Buch über Böll unter dem Stichwort „Verteidigung der Kindheit“ als einen emotionalen Rückzug aus der Abstraktheit der modernen Welt zu den humanen Werten der Nähe dargestellt. Das war in der Vorkriegszeit schon einmal als Konzept des „einfachen Lebens“ ein literarisches Thema gewesen. In den Wiederaufbaujahren der Nachkriegszeit verschärfte es sich zur Ohne-mich-Haltung gemäß dem Wort von Günther Eich „Seid Sand und nicht das Öl im Getriebe der Welt“. Böll bekannte sich zur kritisierten „Trümmerliteratur“. Und wenn man seine frühen Texte liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Situation des Mangels, der Not und der Tauschgeschäfte für ihn eine Erfahrung darstellte, die ihm viel menschlicher erschien, als die sich andeutende Rückkehr zu einer florierenden Klassen- und Konsumgesellschaft.

Das war die Ausgangssituation, von der aus er sich zunehmend und mit unermüdlichem Eifer publizistisch in die Probleme der sich verändernden Gesellschaft einmischte und zu einer geachteten kritischen Instanz in sozialen und moralischen Fragen wurde. Erzählendes und argumentatives Schreiben wuchsen dabei zu einer komplexen Einheit zusammen, was seine Aktualität und gewiss auch seine Nobelpreiswürdigkeit verstärkt hat. Er war ein einleuchtender Kandidat für den Preis und machte eine gute Figur. Vielleicht hing das mit dem unbefangenen Selbstgefühl des kleinen Jungen zusammen, der von den Menschen seiner Umgebung geliebt und bewundert worden ist.

Das allerdings ist ein Wert der unmittelbaren menschlichen Nähe. Ruhm dagegen bedeutet massenhafte, meist anonyme Zuwendung von Beachtung. Man wird zu einem bekannten Gesicht. Und dieses Gesicht gehört einem nicht allein. Denn es ist ein Gemeinschaftsprodukt, verbunden mit Ansprüchen, denen man entsprechen muss, um die Zuwendung zu erhalten. Das ist der Sinn des Wortes „das Gesicht wahren“. Es ist der massenhafte anonyme Anspruch an den Ausgezeichneten, er solle in seiner Spur bleiben und weitermachen, hinter dem ich die müde Stimme Bölls höre, der zu meiner Frau sagte: „Ich hab keine Lust mehr.“

Stabiler Ruhm zeigt sich übrigens daran, dass der Anspruch, ein Bestimmter zu sein, nach dem Tod nicht erlischt. Dafür noch ein Beispiel: Ungefähr 150 Meter von meiner Wohnung in der Kölner Südstadt entfernt, befindet sich das Haus, in dem Böll geboren wurde und die glücklichen Jahre seiner Kindheit verbrachte. Es ist ein großes wilhelminisches Eckhaus in der Teutoburger Straße, die dort die Alteburger kreuzt. Im Erdgeschoss befinden sich die Räume einer türkischen Moschee. Der Eingang zu den Wohnungen - laut Klingelschild sind es 18 Parteien - befindet sich in der Teutoburger Straße. Er wird ausgefüllt von einer Tür aus schwerem Glas. Darauf ist in plakativem Schwarz-Weiß Bölls knapp brusthohes Profil projiziert. Weiter unten steht in der Anordnung einer Grabschrift die Auskunft „Geburtshaus des Kölner Schriftstellers und Nobelpreisträgers Heinrich Böll“. Dazu das Geburtsdatum 21.12.1917. Das ist eine angemessene Information.

Aber die Tür - häufig ein Anlaufpunkt für Stadtbesichtigungen - ist als Objekt weder eindrucksvoll noch informativ. Es handelt sich ja nicht um das Weimarer Goethehaus. Also hat man, um dem Ort mehr Bedeutung zu geben, unter Bölls Bild eine Formulierung Lew Kopelews gesetzt. Sie ist aus einem Redezusammenhang gerissen und von einem Brechttitel abgeleitet, klingt aber wie der Titel eines Bühnenschwankes, der sich selbst zu unterlaufen verspricht: „Der gute Mensch von Köln“. Ist er der Einzige? Handelt es sich um eine Auszeichnung, die von einer Fachjury vergeben wird?

Dieser Titel unter seinem Bild wäre Böll sicherlich peinlich gewesen. Man muss ihn vor solchen Klischees schützen, die er manchmal auf sich zu ziehen scheint. In meinen Augen war er ein außerordentlich komplexer Mensch, voller Spannungen und Widersprüche, der umso mehr nach Einfachheit strebte.

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