Aufklärung für Kölner FlüchtlingeEin kurzer Rock ist keine Flirt-Einladung

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Jugendliche Flüchtlinge in einer Jugendhilfe-Einrichtung

Jugendliche Flüchtlinge in einer Jugendhilfe-Einrichtung

Köln – Es spricht sich allmählich herum bei jugendlichen Flüchtlingen, die nach Köln kommen: Bei Pro Familia, da kann man all die Fragen stellen, die man sonst nicht zu stellen wagt. Da kann man über Mädchen reden und wie das mit denen so läuft in Deutschland.

Die Beratungsstelle wird vor allem von den 13- bis 17-jährigen Flüchtlingen genutzt, die sich allein auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten. „Neulich standen fünf Jungen aus Afghanistan vor der Tür, die waren von einer Jugendeinrichtung vermittelt“, erzählt Pro-Familia-Sexualpädagoge Jan Gentsch. „Der Wunsch nach Wissen ist einfach riesig.“

Ulla Engel-Horstkötter und Jan Gentsch von Pro Familia

Ulla Engel-Horstkötter und Jan Gentsch von Pro Familia

Gentsch und seine Kollegin Ulla Engel-Horstkötter fühlten sich vor einigen Monaten herausgefordert, Aufklärungsgespräche für diese ganz neue Gruppe Ratsuchender zu entwickeln, eben für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Es sind fast ausschließlich Jungen, die aus Syrien, Afghanistan, aus dem Irak, Eritrea, Iran oder Somalia kommen und die hierzulande von Jugendhilfe-Einrichtungen betreut werden.

Geschlechter-Rollenverständnis unterscheidet sich stark

Etliche von ihnen haben in den vergangenen Monaten bereits ganz gut Deutsch gelernt. Nun wird den Jungen allmählich bewusst, dass Sprachkenntnisse allein nicht sämtliche Schwierigkeiten im Umgang mit Deutschen lösen. Dazu unterscheidet sich schon das Geschlechter-Rollenverständnis in Deutschland viel zu stark von dem in ihrer Heimat. Jan Gentsch bietet ihnen Gespräche unter Männern an, im kleinen Kreis mit höchstens fünf Teilnehmern. Sein Ziel: erst einmal Vertrauen zu schaffen. „So können die Jungs ihre weiche Seite zeigen. Sie bringen eine gewisse Traurigkeit mit, vermissen ihre Eltern und Geschwister“, sagt Gentsch. „Für sie ist hier alles verwirrend. Ihre gewohnten Verhaltensweisen funktionieren oft nicht.“

Das größte Problem für die Flüchtlinge seien die Denk- und Verhaltensweisen der erlernten Männerrolle. Und dazu gehöre es, Versorger einer Familie zu sein, Frauen zu ehren und zu entlasten, erzählt Gentsch. „Sie müssen sich bereits in ihrem jungen Alter mit Heiraten beschäftigen. Um die richtige Frau für sie zu finden, vertrauen sie oft auch den Eltern – mit dem Argument, Eltern würden ihre Kinder am besten kennen.“

Die Eltern sind nicht mehr da

Aber nun sind die Eltern nicht mehr da. Die Jungen sehen, wie Frauen in Deutschland selbstbewusst und unbegleitet durch die Straßen gehen, sie sehen gleichaltrige Mädchen mit langen Haaren und kurzen Röcken. „Ein Schock für die Jungs“, sagt Gentsch. Beim Vergleich mit ihrem Frauenideal empfänden sie ihre Mitschülerinnen häufig als oberflächlich – weil sie so viel mit Schminken und Kleidung beschäftigt seien. „Wenn ich ihnen erzähle, dass für Männer und Frauen das Thema Ehe hierzulande im Jugendalter nicht wichtig ist, sondern erst in späteren Jahren, dass sich Männer und Frauen vor einer Ehe oft begegnen können und Frauen stark eigene Berufspläne verfolgen, finden die Jungen das zunächst schräg.“

Sie wüssten gar nicht, was sie von diesen fremden Einstellungen halten sollen, erläutert Gentsch die Verwirrung. Auf Ablehnung stoße er jedoch nicht, wenn er den Jungs die Rechte der Frauen und Mädchen auf Selbstbestimmung hierzulande erläutere. Und wenn er erkläre, dass Frauen diese Rechte in der deutschen Gesellschaft vor noch gar nicht langer Zeit mühsam erkämpfen mussten und immer noch erkämpfen. Dass Männer und Frauen hierzulande ihre Rollen in Beziehungen untereinander aushandeln können, stelle traditionelle Einstellungen anderer Kulturen enorm in Frage, so Gentsch: „Das löst starke Konflikte aus. Ich erzähle ihnen dann von mir, wie ich damit klar komme.“

Es geht es um Neubewertungen und das Aufräumen von Mythen

Verwirrend seien für die Jungen auch die Signale der Mädchen, so wie sie diese erlebten: die offene Haarpracht, die knappen Tops, ein kesses Anlachen. „Da reagieren sie aus Scham und Unsicherheit sehr zurückhaltend und senken die Augen. Nun wollen sie von mir erfahren, was denn diese Signale bedeuten.“ So drehe sich ein großer Teil der Gespräche darum, dass vieles, was den Jugendlichen frei von Regeln erscheint, dennoch Regeln unterliege. Ein kurzer Rock sei eben keine Einladung zum direkten Flirt.

An diesem Punkt käme jedoch sofort die Sprache auf die halbnackten, auffordernden Frauen auf Plakaten. „Miniröcke auf der Straße und aufreizende Bilder, das können sie nicht zunächst einordnen.“ Es sei nicht einfach zu erläutern, dass nicht nur sie, sondern auch die hier aufgewachsenen Männer immer sehr genau hinsehen müssten, wo die Grenzen gezogen seien. Und dass auch sie unbedingt respektieren müssten, wenn Frauen Abstand wollen.

Onanieren macht nicht blind

Mit wachsendem Zutrauen wagten sich die Jungen in den Gesprächen auch an Themen, die mit ihrer eigenen Sexualität zu tun haben, sagt Gentsch. Es gehe es um Neubewertungen und das Aufräumen von Mythen. „Sie wissen wenig über ihren eigenen Körper.“ Wenn der Sexualpädagoge ihnen versichere, dass Onanieren keine krummen Finger und nicht blind mache, „dann hört man wahre Gerölllawinen von ihren Herzen abgehen.“

Wenn sie hörten, dass Penisgröße oder eine Beschneidung absolut keine Rolle bei der Zeugung von Kindern spielen, wenn sie erführen, dass man sich im Leben durchaus mehrmals verlieben könne, „dann machen sie Ohren, groß wie Rhabarberblätter“. Noch weniger Kenntnis hätten die Jugendlichen von den weiblichen Geschlechtsorgane. All diese Informationen saugten die jungen Flüchtlinge geradezu auf, hat Gentsch erfahren. „Ich habe selten so dankbare Menschen erlebt wie bei diesen Gesprächen.“

Es fehlt an Geld und Personal

Eine ebenso große Neugier hätten jedoch deutsche Mädchen auf ihre neuen Klassenkameraden aus fernen Ländern, sagt Ulla Engel-Horstkötter, die für Pro Familia in Schulklassen geht. „Die Überfälle in der Silvesternacht zeigen dabei jedoch deutlich Auswirkungen“, sagt sie. Seitdem würden die Eltern ihren Töchtern zu mehr Abstand raten. „Ich überlege oft mit meinem Kollegen Jan darüber, wie wir die Missverständnisse zwischen den Kulturen am besten ausräumen können.“

Nach zwei Stunden intensiver Gesprächsrunde bei Jan Gentsch bleiben bei den Jungen oft noch Fragen offen. Sie wollten dann sofort einen zweiten Termin. „Doch den können wir ihnen nicht geben“, sagt Sören Bangert, Leiter der Pro-Familia-Beratung am Hansaring. Es fehle schlicht an Geld und Personal. „Wir werden seit Jahren gleichbleibend bezuschusst von der Stadt.“ Sein Kollege mache bereits Überstunden dafür, und das nur, weil er diesen Einsatz für wichtig halte. „Diese Jungs wollen hierbleiben und sind enorm ehrgeizig. Sie brauchen deswegen unsere Unterstützung zum Verständnis unserer Kultur.“

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