Geschichten weiter erzählenHeinrich-Böll-Gesamtschule ist jetzt Partner des Vereins Zweitzeugen

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Zwei Frauen und ein Mann stehen an einem Tisch in einem Schulflur. Der Mann unterzeichnet gerade ein Schriftstück.

Louisa Hübers vom Verein Zweitzeugen, Rolf Grisard und Anny Papaphilippu (v.l.) unterzeichneten die Kooperation zwischen Schule und Verein

Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichten der Zeitzeugen, die immer weniger werden, weiterzutragen. Zu Gast an der Schule war jetzt die Holocaust-Überlebende Tamar Dreifuss.

Tamar Dreifuss wirkt etwas angeschlagen, als sie am Tisch vor der Bühne des Pädagogischen Zentrums der Heinrich-Böll-Gesamtschule (HBG) geduldig darauf wartet, dass die Schüler der Q1, sowie einer Gruppe Besucher vom Heinrich-Mann-Gymnasium, in den Stuhlreihen vor ihr Platz genommen haben. „Ich bin nicht so fit“, sagt die Holocaust-Überlebende bei der Begrüßung. Seit den Ereignissen in Israel am 7. Oktober sei sie sehr niedergeschlagen. „Aber ich dachte, ich muss das hier machen. Der Antisemitismus blüht wieder auf und wir müssen was dagegen tun“. 

Tamar Dreifuss erzählt ihre Geschichte in Köln-Chorweiler

Darum erzählt die 85-Jährige auch heute wieder im Rahmen des Antirassismus-Tags der HBG die Geschichte ihres Überlebens, wie sie es sie schon seit Jahren immer wieder vor Schülern tut. „Das macht Tamar Dreifuss zu etwas Besonderem“, meint Louisa Hübers vom Verein „Zweitzeugen“ aus Essen, der diesen Besuch in der HBG mit organisiert hat, „dass sie ihre Geschichte noch selbst erzählen kann“. Denn wie es in der Natur der Zeit liegt, gibt es immer weniger Menschen, die NS-Diktatur, Judenverfolgung und Holocaust miterlebt haben und davon berichten können. „Zweitzeugen“ hat es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, diese Geschichten aufzuzeichnen und sie an ihrer statt weiter zu erzählen. 

„Wir lassen uns von einem Zitat des Schriftstellers Elie Wiesel leiten, selbst ein Holocaust-Überlebender: Jeder, der einem Zeugen zuhört, kann selbst zum Zeugen werden“, so Hübers. Entstanden ist der Verein vor gut zehn Jahren aus einem Studienprojekt der heutigen Geschäftsführerinnen Sarah Hüttenberend und Anna Damm. Inzwischen haben die etwa 100 Mitwirkenden des Vereins 37 Zeitzeugen interviewt und ihre Geschichten dokumentiert. „Viele davon sind inzwischen verstorben, oder sind nicht mehr in der Lage, sie selbst zu erzählen“, sagt Hübers. Die Vereinsmitglieder veranstalten daher Workshops in Grund- und weiterführenden Schulen, in denen sie die Geschichten der Interviewten weitertragen.

Schulleiter Rolf Grisard und Louisa Hübers unterzeichneten im Rahmen der Veranstaltung nun einen Kooperationsvertrag zwischen der Schule und dem Verein, der dank einer Finanzierung durch die Rhein-Energie-Stiftung auch in den kommenden zwei Jahren Workshops in der HBG veranstalten kann, sagt Englisch- und Pädagogiklehrerin Anny Papaphilippu, die an der HBG für die Erinnerungskultur zuständig ist. „Aber angesichts des Einflusses von fremdenfeindlichen, antisemitischen und frauenfeindlichen Gruppen, die die Demokratie zurzeit bedrohen, kann der Satz ‚wehret den Anfängen‘ gar nicht oft genug wiederholt werden.“

In der Hundehütte vor den Nazi-Schergen versteckt

Tamar Dreifuss spricht mit leiser, aber fester Stimme, als sie ihre Geschichte erzählt. „Dass ich überlebt habe, ist ein Wunder, das ich meiner Mama zu verdanken habe“, sagt sie. „Denn sie hat damals gesagt: Lieber auf der Flucht erschossen werden, als wie die Lämmer zur Schlachtbank geführt zu werden“. 1938 geboren, wuchs Dreifuss in Wilna in Litauen auf, dem heutigen Vilnius. Nachdem ihr Vater bereits 1943 deportiert und ermordet worden war, wurden Mutter und Tochter in ein Durchgangslager im litauischen Tauroggen gebracht, konnten jedoch von dort entkommen. Von da an versteckten sie sich auf verschiedenen Bauernhöfen -  besonders eindringlich ist ihre Erzählung, wie sie sich vor deutschen Soldaten in der Hundehütte eines scharfen Wachhundes verbargen, der niemanden in seine Nähe ließ, bis auf die Mutter und ihr Kind.

Auch an den Schülern gehen Dreifuss' Erzählungen nicht spurlos vorbei. „Teil unserer Workshops ist es, dass die Schüler den Zeitzeugen oder ihren Angehörigen Briefe schreiben“, sagt Hübers, „an diesen Briefen merkt man immer wieder, wie sehr sie von den Geschichten berührt werden. Es ist dieser persönliche Zugang, der die Geschehnisse von damals für sie begreifbar machen“. Papaphilippu hofft derweil, dass die Kooperation mit dem Verein auch nach den ersten drei Jahren fortgeführt werden kann. 

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