Jeder Achte betroffenKölner Verein bietet Lösungen zur Bekämpfung des Analphabetismus

Lesezeit 3 Minuten
Am „ALFA-Mobil“ kommen auf dem Liverpooler Platz am Donnerstag (v. l.) Juliane Averdung, Anja Kischel sowie Kai Sterzenbach und Robert Voigtsberger ins Gespräch mit Menschen in Chorweiler.

Am „ALFA-Mobil“ kommen auf dem Liverpooler Platz am Donnerstag (v. l.) Juliane Averdung, Anja Kischel sowie Kai Sterzenbach und Robert Voigtsberger ins Gespräch mit Menschen in Chorweiler.

Wegen Scham findet das Thema wenig öffentliche Beachtung. Deshalb möchte ein Kölner Verein ein niederschwelliges Angebot liefern.

Reges Treiben herrscht am Donnerstagvormittag zwischen den Verkaufsständen auf dem Liverpooler Platz. Es ist Markttag in Köln-Chorweiler. Rein statistisch haben hier jede und jeder achte unter allen erwachsenen Besucherinnen und Besuchern ein „signifikantes Problem beim Lesen und Schreiben“ - denn mehr als sechs Millionen der volljährigen Menschen in Deutschland können nicht oder nicht richtig lesen und schreiben. Ein „alarmierender Zustand, auf den die Stadt Köln in Kooperation mit verschiedenen Bildungsinitiativen in der Stadt heute aufmerksam machen will“ und den es einzuschränken gelte, wie Robert Voigtsberger sagt, Beigeordneter für Bildung, Jugend und Sport der Stadt Köln.

Er ist gekommen, um sich ein Bild davon zu machen, wie das Team um Anja Kischel, Leiterin des „Programmbereichs Sprachen“ bei der Volkshochschule (VHS) Köln, sowie Kai Sterzenbach, Geschäftsfüher des gemeinnützigen Vereins ,„Lernende Region – Netzwerk Köln“, und Juliane Averdung, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem bundesweiten Projekt „ALFA-Mobil“, gezielt in dem geschäftigen Treiben im Zentrum des Stadtteils Menschen ansprechen und mit ihnen über das Thema ins Gespräch kommen wollen.

Wenig öffentliche Beachtung wegen Scham

Der Ort ist dabei nicht zufällig gewählt, denn „die verschiedenen sozialen Strukturen spielen eine bedeutsame Rolle bei der Ausprägung der Problematik – sowohl auf dem Land als auch in Ballungsgebieten", erläutert Averdung. Die 38-jährige Pädagogin sowie ihre Kolleginnen und Kollegen vom Bundesverband „Alphabetisierung und Grundbildung“ sind jährlich an etwa 140 Standorten im ganzen Land mit einem weißen Transporter des Vereins vertreten, dessen Schwerpunkttätigkeit in der Vermittlung von Menschen mit „geringer Literalität“ – so wird Analphabetismus in der Fachsprache bezeichnet – in lokale Einrichtungen und regionale Programme zur Unterstützung liegt.

„Die Betroffenen schämen sich meist wegen des Problems, weshalb die Thematik trotz der hohen Relevanz nur wenig öffentliche Beachtung findet“, betont Kischel. Dabei könnten auch Erwachsene noch lesen und schreiben lernen, sagt sie. Die VHS sei darum froh, das stark nachgefragte „ALFA-Mobil“ in Köln zu haben, um auf die Vielzahl niedrigschwelliger Angebote für betroffene Personen vor Ort hinzuweisen.

„Menschen sollen dort abgeholt werden, wo sie sich bewegen“

Mit Parkscheiben, Kugelschreibern, Holzbuntstiften und bemalten Postkarten als kleinen Geschenken sprechen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der VHS, des Bundesverbands und des Vereins „Lernende Region" die Leute in Chorweiler an. Mit einigem Erfolg. „Der häufig beste Weg, um auf die Hilfsmöglichkeiten aufmerksam zu machen, sind Freunde, Bekannte und Verwandte Betroffener“, hebt Sterzenbach hervor. Die Menschen müssten „dort abgeholt werden, wo sie sich bewegen“, so der 56-Jährige, über dessen Verein sich kölnweit 24 sogenannte Lernbegleiter ehrenamtlich „im Austausch eins zu eins“ engagieren. Dafür nutzten sie etwa Räume in Bürgerzentren und besuchten für die Kontaktaufnahme unter anderem auch Kitas.

Diese Unterstützung, ebenso wie die kostenfreien rund 50 jährlichen Schreib- und Sprachlern-Kurse richteten sich immer an Menschen, die zumindest die Grundlagen der deutschen Sprache beherrschen, sagen Sterzenbach und Kischel. Auch das „ALFA-Mobil“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der „Alpha Dekade 2016-2026“ gefördert wird, vermittelt mit der aufsuchenden Beratung keine Fremdsprachler an die Kooperationspartner.

Um die verschiedenen Möglichkeiten und Erfolge der Alphabetisierung aufzeigen, berichten dabei häufig „Lernbotschafter“, die selbst noch nicht ausreichend literalisiert sind, von ihren persönlichen Erfahrungen. Wir müssen uns weiter vernetzen und austauschen - möglichste über alle Ebenen hinweg", sagt Robert Voigtsberger. Auch wenn europaweite Studien belegten, dass das Problem in anderen industrialisierten Ländern wie England und Frankreich ebenfalls und ähnlich ausgeprägt sei, sollte es vor Ort und möglichst ohne Vorurteile angegangen werden.

Weitere Informationen zu dem deutschlandweit aktiven Projekt „ALFA-Mobil“ gibt es im Internet.

KStA abonnieren