GeburtstagWas die älteste Kölnerin in 109 Jahren alles erlebt hat

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Bronislava Kravtsova (r.) mit Rina Ekelchick.

Köln – 1913, Zar Nikolaus II fährt in einer offenen Pferdekutsche durch Odessa, noch ist es Teil des russischen Zarenreichs. Ein Jahr später wird der erste Weltkrieg alles zerstören. Am Rand steht Bronislava Kravtsova mit ihrem dunklen Haar, sie ist sieben Jahre alt, gerade einmal in die Schule gekommen und wirft, wie die Menschenmassen um sie herum, bunte Blumen auf den Weg des letzten Zars. Ihre blauen Augen glänzen.

Und das auch heute noch, an ihrem 109. Geburtstag, wenn sie an dieses Erlebnis vor über 100 Jahren zurückdenkt. Seit neun Jahren lebt die  älteste Frau Kölns im Elternheim der Synagogengemeinde in Neuehrenfeld. In ihrem Zimmer hängt ein schwarz-weißes Foto von Zar Nikolaus II. „Sie hat ihn und die ganze Zarenfamilie geliebt“, erzählt ihre Tochter Rina Ekelchick (71). Mit ihren 109 Jahren hat die Kölnerin ein Jahrhundert Zeitgeschichte miterlebt.

Was die 109-Jährige alles erlebt hat

  •  2 Weltkriege
  •  5 Umzüge
  • 10 Päpste
  • 7 Bundeskanzler
  • 1 Bundeskanzlerin
  • 10 Briefe von Bundespräsidenten
  • 4 WM-Titel für Deutschland
  • 18 Kölner OB’s
  • 4 Amtszeiten von Putin
  • 1 Zwillingsschwester
  • 2 Töchter
  • 1 Ehe
  • 8 Monate Warten auf Ausreiseantrag
  • 7 Generationen des VW Golf
  • 22 Jahre in Köln
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Bronislava Kravtsova mit Rina Ekelchick vor rund 70 Jahren.

Das geschah im Jahr 1907

  • Bronislava Kravtsova wurde in Odessa geboren.
  • Hagenbecks Tierpark öffnete in Hamburg als weltweit erster Zoo ohne Gitter.
  • Der Apotheker Maximiliam Negwer erfand in Berlin-Schöneberg die Ohropax-Wachskugeln als Schutz vor lauten Geräuschen.
  • In St. Moritz in den Schweizer Alpen fand zum ersten Mal das White Turf-Pferderennen auf Schnee statt.
  • Die Spielvereinigung Sülz 07 wurde gegründet, die 1928 Westdeutscher Meister werden und 1948 mit dem BC Köln 01 zum 1. FC Köln fusionieren sollte.
  • .Die Gaststätte Haus Scholzen eröffnete als Familienbetrieb in Ehrenfeld.
  • 1907 war das Jahr der ersten Austragung der Isle of Man Tourist Trophy, das heute als ältestes, gefährlichstes und umstrittenes Motorradrennen der Welt gilt. Seit 1911 starben mehr als 200 Fahrer auf dem Straßenkurs.
  • Eine Anlage für Kalkstickstoff, einem Mineraldünger für die Landwirtschaft, machte den Anfang für den heutigen Chemiepark Knapsack.
  • Der Bau der Eisenbahn- und Straßenbrücke am Dom, die vier Jahre später fertiggestellt werden sollte und den Namen Hohenzollernbrücke trägt, begann.
  • Das Unternehmen Moch Schaufensterpuppen wurde gegründet. Der erste Schaufensterfigurenhersteller Europas ist noch heute in Rodenkirchen ansässig.
  • Der Dichter W.H. Auden, Hollywood-Raubein John Wayne, Schriftstellerin Daphne du Maurier („Die Vögel“) und die (Kriegs-)Fotografin Lee Miller wurde geboren. (stef)

Die Geschichte von Bronislava Kravtsova

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Kravtsova mit Mann und Tochter.

Neben dem Bild des Zaren hängen in ihrem Zimmer die bunten Glückwunsch-Plakate von vergangenem Jahr zu ihrem 108. Geburtstag. Eingerahmt direkt daneben ein Glückwunsch-Brief von Bundespräsident Horst Köhler aus dem Jahre 2007 zum 100. Geburtstag.  Seitdem bekommt Kravtsova regelmäßig Post aus Bonn. Sechs  Briefe mit herzlichen Glückwünschen zum dreistelligen Alter hat sie schon. An der anderen Wand hängen dutzende schwarz-weiß Fotos. Mehr als ein Jahrhundert in Momentaufnahmen. Ein Bild  zeigt die gebürtige Russin lachend mit  ihrer Zwillingsschwester Elisaveta im Badeanzug. „Das war in ihrem Sommerhaus in Odessa am Schwarzen Meer“, erzählt Ekelchick.   

Dort wurde Kravtsova  1907 geboren.  Sie spricht nur wenig Deutsch, so dass ihre Tochter für sie ins Russische übersetzten muss – und das etwas lauter. Die ältere Dame hört schlecht.

Sie sitzt  mittlerweile im Rollstuhl, aber sonst ist sie körperlich fit für ihr Alter. Wie sie so alt geworden sei? Da ist sich Ekelchick auch nicht sicher. Aber ihre Mutter habe nie eine Diät gemacht, sie liebe deftiges russisches Essen, und keinen Sport getrieben, abgesehen vom Baden im Schwarzen Meer. Alkohol getrunken und geraucht habe sie auch nicht. „Ich glaube sie lebt so lange, weil sie eine liebevolle Familie hat und einen guten Charakter“, sagte sie und tätschelt ihrer Mutter die Hand. Und gute Gene. Viele in ihrer Familie seien so alt geworden.  Bis heute nimmt Kravtsova nur eine einzige Tablette am Tag – eine Aspirin fürs Wohlbefinden. Andere Medikamente braucht die 109-Jährige nicht.

Auswanderung aus der UdSSR

Ihre Zwillingsschwester Elisaveta ist 1994 schon mit 86 Jahren gestorben. „Das hat meine Mutter sehr getroffenen. Sie standen sich so nah“, sagt die Tochter.  Im gleichen Jahr kam Kravtsova nach Deutschland. Acht Monate lang hatte sie auf den Ausreiseantrag gewartet. Wie viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, wanderte sie nach der Auflösung der UdSSR aus. Zuvor war die Familie während des zweiten Weltkriegs nach Kasachstan geflohen. Dort bekam sie mit ihrem Mann, einem Bauingenieur, ihre erste Tochter. Sie starb im Alter von drei Jahren an Meningitis. 1944 kehrten sie nach Odessa zurück. „Alles zwar zerstört. Auch ihr früheres Haus stand nicht mehr. Sie hatten nichts“, erzählte Ekelchick. Aber sie war stark, habe angefasst um sich wieder etwas aufzubauen. Ein Jahr später bekommt sie Tochter Rina. Ihr Mann ist schon lange tot. Er starb mit 68. Ihr Hochzeitsfoto hängt noch neben ihrem Bett. Familie ist das wichtigste für sie.

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Gemeinsam mit Zwillingsschwester Elisaveta (rechts).

Kravtsova wurde immer älter und es starben immer mehr ihrer Wegbegleiter. „Ihre letzte Freundin hat sie vor zwei Jahren mit 99 Jahren verloren“, erzählte Ekelchick. Das sei schlimm für ihre Mutter gewesen. Sie besucht sie jeden Tag, pflegt sie und fährt mit ihr spazieren – am liebsten im Garten.

„Wenn die Schwester draußen auf dem Flur anfängt Klavier zu spielen, fallen meiner Mutter wieder die ganzen alten russischen Liedtexte ein, die sie früher mit ihrer Schwester gesungen hat und sie singt kräftig mit.“ Musik habe sie immer geliebt. In Odessa war sie Musiklehrerin, hat Klavier gespielt und es auch ihrer Tochter beigebracht. Später in Deutschland, in Köln, wohnte sie in der Stegerwaldsiedlung in Mülheim. „Wir sind sehr oft in die Philharmonie und zur Orgelkonzerten in den Dom gegangen.“  Von Schriftsteller Puschkin kann sie auch noch ganze Passagen auswendig.

Nach zwei Weltkriegen, muss sie wieder mitansehen, wie ihre Heimatstadt Odessa, die heute in der Ukraine liegt, nicht zur Ruhe kommt. Blutige Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten und rechten Milizen, der Aufruhr nach der Krim-Annexion. Kravtsova verfolgt die Ereignisse über ihren Fernseher. „Es ist schrecklich, was dort passiert. Sie ist entsetzt.“ Um ihre Heimat noch einmal zu besuchen, hat sie nicht mehr genug Kraft. Aber Köln sei ihr zweites Zuhause geworden. „Sie liebt den Karneval“, erzählt Ekelchick lachend. In passenden Partnerkostümen feiern die beiden jedes Jahr zusammen im Elternheim. Auch diese Fotos zieren die weißen Wände. Und in zwei Jahren wenn sie 111 werde, gibt es vielleicht sogar mal ein Kölsch.

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