Gespräche alter Damen in Köln-Deutz„Bei kleinsten Fehlern wurde ich erniedrigt“

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Alte Damen im Gespräch im Deutzer Bürgerzentrum

Alle zwei Wochen treffen sich die älteren Damen im Deutzer Bürgerzentrum

Im Bürgerzentrum Deutz treffen sich Seniorinnen alle zwei Wochen zum Austausch. Gebrechlichkeit und Tod setzen die Damen Heiterkeit und Lebensmut entgegen.

„Schaut mal, da kommt der Oberschenkelhalsbruch!“, kommt es aus der Runde, als die 85-jährige Mathilde Müller am Rollator an die gedeckte Kaffeetafel trippelt. Hildegard Tiede (79) zeigt bei der Vorstellungsrunde auf ihren geschwollenen Kiefer: „Ich hatte keine Schlägerei, das war der Kieferchirurg!“, sagt sie. – „Hoffentlich schaffst Du den Kuchen!“ - „Ich höre nicht so gut, aber ich bleibe noch ein bisschen hier, die meisten in meinem Alter liegen schon eine Etage tiefer!“, sagt die 101-jährige Gerda Moebius. Donnerndes Gelächter.

Im Deutzer Bürgerhaus treffen sich alle zwei Wochen Frauen, die schon ein langes Leben gelebt haben. Die meisten waren im Zweiten Weltkrieg Kinder, erlebten Hunger und Entbehrung, einige Flucht, viele Zucht. Viele von ihnen sind verwitwet, die meisten ihrer Freundinnen und Verwandten lange tot. Alter, Gebrechlichkeit und Einsamkeit setzen sie – zum Beispiel – Gespräche entgegen.

Gerda Moebius und ihre Tochter Helga Schneider in der Quasselrunde in Deutz

Gerda Moebius (l.) ist 101 - ihre Tochter Helga Schneider pflegt sie auch.

Nur Frauen treffen sich, „weil viele in ihren traditionellen Beziehungen selten Gelegenheit hatten, von sich zu erzählen“, sagt Stephanie Pauly, die den Gesprächskreis zusammen mit Ulla Stuckmann ins Leben gerufen hat. „Wenn eine von uns erzählt, kommen die Erinnerungen von vielen anderen zurück – das kollektive Gedächtnis erwacht.“ Und es wird viel gelacht.

Weil ich Gleichgewichtsstörungen habe, gehe ich im Haus viel rückwärts, das hilft gegen Schwindel. Auf der Straße denken die Leute, ich bin besoffen
Erika-Renate Zych

Naturgemäß geht es in den meisten Gesprächen um die Vergangenheit. Schulzeit, Verbote, Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen waren schon Gesprächsthemen. Es geht aber auch um Fitness: Einschränkungen, Krankheiten – und Möglichkeiten, beweglich zu bleiben. Bevor zu einem Thema gesprochen wird – heute geht es um die Ausbildungszeit, fast alle in der Runde haben eine Lehre gemacht oder studiert – gibt es eine Bewegungsaufgabe: gleichzeitig auf den Tisch klopfen und mit der anderen Hand Kreisbewegungen machen, beim Kniebeugen eine Aufgabe lösen.

„Ich stehe jeden Morgen um 5 Uhr auf, mache Rechenaufgaben, danach zwölf Minuten Gymnastik“, sagt Erika-Renate Zych. „Weil ich Gleichgewichtsstörungen habe, gehe ich im Haus viel rückwärts, das hilft gegen Schwindel. Auf der Straße denken die Leute bestimmt manchmal, ich bin besoffen.“ – „Gehst du denn auch rückwärts über den Zebrastreifen?“, fragt Bärbel Kohlgraf-Krämer. – „Wenn es nötig wäre, würde ich es machen. Warum denn nicht?“  - „Du musst mal den rechten Arm nach oben strecken beim Laufen, dann geht man gerader!“ – „Das mit dem Arm strecken lassen wir mal lieber!“

Die 89-jährige Anneliese Gerhards, seit fünf Jahren Witwe, beginnt mit ihrer Ausbildungsgeschichte: Ihre Eltern seien wie fast alle Eltern seinerzeit der Meinung gewesen, „als Mädchen bräuchte man nicht zu studieren“. So sei es geschehen: acht Jahre Schule, kaufmännische Lehre, erstes Lehrjahr 20 Mark im Monat, zweites Lehrjahr 30 Mark, davon fünf Mark Fahrgeld, „den Rest musste ich zu Hause abgeben“. Ihr Chef sei „streng und pedantisch“ gewesen, „bei kleinsten Fehlern wurde ich erniedrigt“. Als junge Frau habe sie ein Magengeschwür bekommen. „Eine schöne Zeit war es nicht.“

Seniorinnen Treff in im Bürgerzentrum Deutz

Bevor über ein Thema gesprochen wird, machen die Damen neurophysische Übungen. Stephanie Pauly (gestreifter Pulli) leitet an.

Die von ihrem Oberschenkelhalsbruch halbwegs genesene Mathilde Müller erzählt von der Frauenfachschule, auf der sie Kochen, Waschen und Nähen gelernt habe. Als sie in der Nachbarschaft eine Lehrstelle als Zahnarzthelferin fand, putzte und kochte sie für die Familie des Zahnarzts, schleppte Kohlen aus dem Keller – und passte auf dessen Kinder auf. „So war das“, sagt sie, „aber wir haben es schon auch mit uns machen lassen.“ Als sie sich in der Kölner Uniklinik für eine Stelle vorgestellt habe, sei die erste Frage des Chefarztes gewesen: „Planen Sie noch Kinder?“ – „Wahnsinn. Das ist zum Glück heute undenkbar“, sagt Stephanie Pauly.

Als Mutter, die arbeiten ging, musste ich mich schon sehr durchbeißen – auch gegenüber den Chefärzten und anderen Kollegen im Krankenhaus
Gerda Moebius (101)

Die 101-jährige Gerda Moebius, die von ihrer Tochter Helga Schneider (71) im Rollstuhl in die Runde geschoben wird, erzählt von ihrem sehr fortschrittlichen Elternhaus: „Ich habe Abitur gemacht, das gab es damals sehr selten bei Mädchen.“ Statt wie erträumt Fremdsprachenkorrespondentin zu werden, sei sie in Halle an der Saale indes medizinische Assistentin geworden – „das war einfach ein krisensicherer Job“.

Als das erste Kind auf die Welt kam, ging sie wenig später wieder arbeiten, „weil mein Mann noch studierte, habe ich die Familie ernährt“. Von vielen sei sie dafür schief angeguckt worden. „Als Mutter, die arbeiten ging, musste ich mich schon sehr durchbeißen – auch gegenüber den Chefärzten und anderen Kollegen im Krankenhaus.“ Aber: „Ich habe es ja geschafft!“ Johlender Applaus.

Stephanie Pauly war das erste Mädchen mit Abitur in der Familie

Auch Stephanie Pauly (72) war das erste Mädchen mit Abitur in der Familie. Als ihr Vater ihr empfahl, Steuerberatungsgehilfin zu werden, um seine Steuer machen zu können, habe sie ihm entgegengeschmettert: „Dann verklage ich Dich!“ Und sei nach Köln gegangen, um Biologie und Chemie zu studieren. „Ich fand meine Schulzeit entsetzlich und wollte Unterricht machen, der auf die Kinder eingeht – und ihre Neugier weckt, statt sie zu töten.“ Die Damen klopfen auf den Tisch.

Bärbel Kohlgraf-Krämer wollte Schuhverkäuferin werden. „Da hatte man was an die Füße“, sagt die 82-Jährige, die mit neun mit ihrer Familie über die DDR-Grenze in die BRD flüchtete. Von ihren 65 Mark Lehrgeld habe sie fünf Mark pro Woche als Taschengeld behalten, den Rest zu Hause abgegeben. „An Ostern bekam ich dafür von meinen Eltern ein Fahrrad – die Marke hieß Vaterland.“

Erika-Renate Zych lebte in Nachbarschaft von Günter Grass in Danzig

Erika-Renate Zych erinnert sich, dass sie nach dem Krieg in Danzig als „Deutsche“ und „Nazis“ beschimpft wurden, später in Deutschland dann als „Polen“. Sie hätte so gern Abitur gemacht und Jura studiert, sagt die agile Dame, deren Familie in Danzig Nachbarn von Günter Grass und seiner Familie war – „aber für Schulgeld hatten wir nichts übrig. Also bin ich in der Finanz- und Lohnbuchhaltung gelandet“.

Ihre Geschichtslehrerin habe das KZ in Auschwitz überlebt, erinnert sich Zych. „Als wir mit ihr und unserer Klasse Auschwitz besuchten, habe ich danach zu meiner Mutter gesagt: Ich möchte kein Deutsch mehr sprechen.“ Sie tat es. Sprach fortan nur noch Polnisch. „Als ich dann 1966 nach Deutschland kam, konnte ich fast kein Deutsch mehr.“ Nach zehn Monaten in Köln habe sie ihre erste Stelle bei einer deutsch-polnischen Firma angefangen – und arbeite bis heute gelegentlich für das Unternehmen. „Wir haben das Beste daraus gemacht“, sagt Zych. 

Wären sie heute jung, hätten wohl fast alle in der Runde studiert. Mit Konjunktiven freilich haben sich die Frauen aus der Deutzer  Quasselrunde nie aufgehalten. Sie haben ihr Leben gelebt – und leben es weiter.

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