Schießerei im HausflurEine Kommissarin berichtet von einer ihrer schlimmsten Nächte

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Svenja Faden erlebte in einem ihrer ersten Einsätze als Polizeibeamte überhaupt eine Schießerei.

Svenja Faden erlebte in einem ihrer ersten Einsätze als Polizeibeamte überhaupt eine Schießerei.

Köln – Es ist Freitag, der28. Januar 2011. Nachtdienst. Extrem ruhig. Eine tote Nacht sozusagen. Ich sitze mit einem Kollegen im Streifenwagen, und wir hoffen, dass sie endlich rumgeht. Gegen drei Uhr meldet sich die Leitstelle mit einem Einsatz.

Leitstelle: Würzburger Straße in Vingst. Ein Anrufer berichtet, seine Ex-Frau habe ihn gerade aus ihrer Wohnung angerufen, sie sei verletzt. Näheres nicht bekannt.

Wir fahren zu viert hin, zwei Beamtinnen und zwei Beamte – obwohl das eigentlich erst einmal nicht nach einem Einsatz klingt, zu dem man zwingend mit zwei Streifenwagen muss. Aber wir sind froh, dass es etwas zu tun gibt. Wir stellen uns im engen Hausflur vor der Wohnung im ersten Stock auf. Trotz Klingeln und Klopfen öffnet niemand.

Wie eine Szene aus einem Krimi

Wir wollen den Einsatz schon abbrechen, als mein Kollege noch ein letztes Mal anklopft und „Polizei“ ruft. Plötzlich hören wir einen gellenden Hilfeschrei einer Frau aus der Wohnung. Wir werfen uns kurze Blicke zu, der Kollege tritt die Tür ein – und wir starren ins Dunkel. Im Flur der Wohnung hängt eine schwach leuchtende Glühbirne von der Decke. Totenstille. Es wirkt wie die Szene aus einem Fernsehkrimi.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es nicht gut wäre, da jetzt reinzugehen. Später erfahren wir, dass der Mieter, ein 55 Jahre alter Mann, wohl im Flur hockte und auf uns wartete. Hätten wir den Flur betreten, hätte er uns alle vier erschießen können. Aber wir gehen nicht rein, wir warten. Und als wir nicht reinkommen, kommt er raus.

Wir sehen, wie die Tür von innen zugedrückt wird. Ein silberner Revolver wird durch den Türspalt in den Hausflur geschoben. Die Person, die ihn hält, drückt sofort ab. Ich stehe drei Meter entfernt. Ich sehe, wie sich die Trommel des Revolvers dreht. Ich sehe den Qualm, der aus der Mündung kommt. Der Krach ist ohrenbetäubend. Wie im Rausch schießt diese Person die Trommel leer, hört auch dann nicht auf, als die Patronen längst aufgebraucht sind.

Angreifer zieht sich in seine Wohnung zurück

Ich erwidere das Feuer, drücke viermal ab, ein Kollege einmal. Die Kollegin, die neben mir steht, sackt zusammen. Irgendwie gelingt es ihr, die Treppe runter aus dem Haus zu flüchten, dem ersten Kollegen hinterher. Ich flüchte mit dem zweiten die Treppe nach oben. Über Funk setzt er einen Notruf ab.

Beamter: Dringende Unterstützung! Schießerei! Wir haben eine Schießerei! Leitstelle: Kollegin getroffen, Würzburger Straße. Schusswaffengebrauch.

Wir sitzen im Haus fest. Mein Kollege behält Sichtkontakt zur Wohnung, richtet seine Waffe darauf. Wir müssen jetzt weiterarbeiten. Müssen die Tür sichern und verhindern, dass der Täter rauskommt und abhaut, vielleicht noch weitere Hausbewohner bedroht. Aber er hat sich erst mal in seine Wohnung zurückgezogen.

In diesem Hausflur in Köln-Vingst fielen die Schüsse.

In diesem Hausflur in Köln-Vingst fielen die Schüsse.

Polizistin erleidet Bauchschuss und weitere Treffer

Ich harre in dem verschmauchten Treppenhaus aus, drücke alle paar Sekunden den Lichtschalter. Eine verängstigte Frau öffnet ihre Tür. Ich versuche, sie zu beruhigen. Wir sind Polizisten, sage ich, wir bleiben hier, bis alles vorbei ist, gehen Sie wieder rein. Ich will die Leitstelle anrufen, aber in dem Stress fällt mir die Durchwahl nicht ein. Dem Kollegen auch nicht. Also wähle ich den Notruf.

Faden: Dringende Unterstützung! Würzburger Straße in Kalk. Schießerei. Leitstelle: Jemand verletzt? Faden: Nein, ich glaube nicht, bis jetzt nicht. Der ballert aus der Wohnung. Schick mal einen Rettungswagen mit. Leitstelle: Ist unterwegs.

Dass meine Kollegin einen Bauchschuss und zwei weitere Treffer erlitten hat, dass sie gerade zwischen zwei geparkten Autos auf der Straße liegt und der Kollege ihr mit seinen Händen die blutende Wunde zupresst, all das weiß ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Der Kollege auf der Leitstelle sagt es mir zwar, aber es dringt gar nicht zu mir durch. Ich bin voller Adrenalin. Ich kriege auch nicht mit, dass die verletzte Kollegin noch selbst über Funk mit der Leitstelle spricht. Wenn ich heute den Mitschnitt höre, finde ich es unglaublich, wie ruhig und sachlich sie redet.

Verletzte Polizistin schwebte in Lebensgefahr – und überlebte

Beamtin: Wir sind Würzburger vor Ort. Leitstelle: Hast du Näheres? Beamtin: Also zum Sachverhalt: Wir haben einen Schrei aus der Wohnung gehört, haben dann die Tür eingetreten. Dann kam der Mann raus und hat sofort auf uns geschossen und ich hab irgendwie einen in den Bauch unter die Weste bekommen und blute. Leitstelle: Ja, verstanden. Beamtin: Zwei Kollegen sind noch im Haus.

Vor dem Haus wimmelt es jetzt von Streifenwagen. Durch die Glasbausteine des Treppenhauses sehen wir die Blaulichter. Auch der Täter ist verletzt, auch er ruft die Leitstelle an. Er sagt, er sei von Polizisten angeschossen worden. Er hat er einen Schuss in die Brust abbekommen. Weil man ihn am Telefon irgendwann nur noch röcheln hört, muss man befürchten, dass er verstirbt, wenn nicht bald Hilfe kommt. Also sofortiger Zugriff. Der Täter liegt schwer verletzt auf dem Bett, der Revolver darunter. Seine Frau wird im Badezimmer gefunden, leicht verletzt. Was zwischen den beiden passiert ist, bleibt unklar.

Nach einer Stunde kann auch ich das Haus wieder verlassen. Endlich frische Luft. Ein Kollege sagt mir, dass meine Kollegin in Lebensgefahr schwebt. Erst jetzt begreife ich. Schlimmer noch: Ich fürchte, dass ich sie mit einem Querschläger getroffen haben könnte. Diese Vorstellung ist der blanke Horror. Aber zum Glück bestätigt sich ein paar Minuten später, dass ich es wohl nicht war, sondern der Täter.

Verletzte und Täter überleben beide

Die Kollegin überlebt, der Täter auch. Er war betrunken, er bekommt fünf Jahre und sechs Monate Haft wegen versuchten Totschlags. Es ist ein Urteil, das ich so akzeptiere. Für das, was er angerichtet hat, gibt es ohnehin keine Strafe, die ich als fair oder angemessen bezeichnen könnte. Viele fragen mich, ob ich den Mann hasse. Aber das ist es nicht. Ich empfinde totale Gleichgültigkeit für ihn. Er lebt sein Leben, ich meines. Ich hoffe nur, dass ich ihm nie wieder begegnen muss.

Nach dieser Nacht dauert es eine Woche, bis das Adrenalin aus meinem Körper verschwunden ist. Eigentlich bin ich ein ausgeglichener Mensch. Aber in den folgenden Monaten erlebe ich mich auch anders. Ich flippe wegen Kleinigkeiten aus. Schmeiße Geschirr an die Wand. Fühle mich unwohl in Menschenmassen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich, wie mir jemand eine Pistole an den Kopf hält. Manchmal sitze ich stundenlang zu Hause und weine. Ärzte diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung.

Ich mache eine Therapie, gehe auch schnell wieder arbeiten. Kündigen kommt für mich nicht in Frage. Schon zur Schulzeit habe ich in den „Freunde“-Alben als Berufswunsch immer „Polizistin“ angegeben. Das ist auch immer noch so.

Schutzweste rettete das Leben der Polizistin

Heute bin ich über das Gröbste hinweg. Meine Kollegin leider nicht. Es geht ihr sehr schlecht. Sie ist immer noch in psychologischer Behandlung. Sie wird demnächst aus dem Dienst ausscheiden.

Inzwischen habe ich 15 Vorträge vor Kollegen gehalten. Ich will sie sensibilisieren, im Dienst immer die Schutzweste zu tragen. Meine Kollegin hatte damals viel Glück. Eine Kugel blieb im Rückenbereich ihrer Weste hängen. Hätte sie die nicht getragen, wäre sie jetzt tot. Und ich bin sicher, dass ich meinen Beruf dann auch nicht weiter hätte ausüben können.

Wir haben damals im Einsatz alles richtig gemacht. Taktisch und rechtlich. Meine Vorgesetzten haben das so gesehen, die Richter auch. Es war Notwehr. Und ich würde wieder so handeln. Aber die letzte Instanz ist das eigene Gewissen – und das urteilt einen gnadenlos ab.

Bis heute mache ich mir Vorwürfe. Ich fühle mich mitschuldig am Schicksal meiner Kollegin. Rational ist das vielleicht nicht zu begründen. Aber es ist nun einmal so. Damit muss ich wohl für den Rest meines Lebens klarkommen.

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