BildungsgerechtigkeitWie eine Kölner Brennpunktschule zum Erfolgsmodell für NRW wird

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Kinder in einer Grundschulklasse

Viele Erstklässler an der James-Krüss-Grundschule haben vorher noch nie ein Buch in der Hand gehalten.

In der James-Krüss-Grundschule in Köln-Ostheim haben Kinder trotz schlechter Startchancen Erfolg.

Im Dezember erscheint die neue Ausgabe der Pisa-Bildungsstudie. Ein zentrales Ergebnis wird wohl sein, dass es hierzulande an der Chancengleichheit hapert. Schon wieder. Das hat zumindest Pisa-Koordinator Andreas Schleicher in einem Vorab-Beitrag für das ZDF-Magazin „Terra X“ bereits angedeutet. Das heißt: Deutschland scheitert einmal mehr an dem Anspruch, Kinder, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden können, so zu fördern, dass sie keine gravierenden Nachteile in der Bildung erleiden müssen. Kommunen, in denen die Armut groß ist, haben die am schlechtesten ausgestatteten Schulen. Ausgerechnet in den Brennpunktschulen ist auch der Lehrermangel am größten, weil die pädagogische Arbeit dort als besonders herausfordernd gilt.

Die aktuelle Umfrage der Düsseldorfer Wübben Stiftung Bildung an „Schulen im Brennpunkt“ bestätigt den Befund: 70 Prozent der 175 befragten Brennpunkt-Schulleitungen beklagten eine schlechte räumliche und personelle Ausstattung. 95 Prozent arbeiten mit Quer- und Seiteneinsteigern. Fast jede fünfte Lehrkraft ist laut der Umfrage an Schulen im Brennpunkt inzwischen über diesen Weg an die Schulen gekommen.

Gleichzeitig hat hier knapp jedes fünfte Kind keine Kita besucht. Jedes vierte Kind dort hat in seinem kurzen Leben bereits traumatische Lebenserfahrungen wie Flucht oder sexuelle Gewalt gemacht. Eine Mehrzahl hat bei Schuleintritt noch großen Unterstützungsbedarf im Deutschen.

Viele Kölner Kinder beherrschen bei der Einschulung kaum Deutsch

Christiane Hartmann arbeitet seit 19 Jahren als Schulleiterin an der James-Krüss-Grundschule in Ostheim mit 270 Schülern. Mit Sozialindex 7 – also besonders belastet – ist ihre Schule kategorisiert. Sie selbst nimmt das Wort Brennpunktschule nicht in den Mund, einfach weil sie ihn stigmatisierend findet. An ihrer Schule gebe es einfach viele Herausforderungen, so formuliert sie das. „Unsere Kinder sind nicht dümmer, sie sind nur weniger gefördert und haben schlechtere Startchancen.“ Viele seien bei der Einschulung in ihrer Entwicklung zwei Jahre zurück. „Manche können keine Schere gerade führen, viele nehmen hier das erste Mal in ihrem Leben ein Buch in die Hand.“ Bei einem großen Teil gibt es familiäre Probleme, viele bringen Traumata von ihrer Flucht mit. Manche beherrschen kaum Deutsch bei der Einschulung, viele andere sind noch mitten im Deutschlernprozess.

Eine Schulleiterin sitzt in ihrem Büro.

Christiane Hartmann, Schulleiterin der James-Krüss-Grundschule in Ostheim

„Für einen Zweitsprachenerwerb braucht es sieben Jahre. Dass die Kinder nach drei Jahren Kita noch mittendrin stecken, ist völlig normal“, erklärt Hartmann. Es ist nicht nur dieser verständnisvolle Blick, der die Schule besonders macht. Sie belegt als Geschichte des Gelingens, was möglich ist, wenn es funktionierende multiprofessionelle Teams gibt.

Viele Kinder gehen hier nach der vierten Klasse mit einer Gymnasialempfehlung raus, eine große Zahl mit eingeschränkter Gymnasial- oder Realschulempfehlung. „Was aber noch viel wichtiger ist: Bei der Entlassfeier der Viertklässler schauen wir in fröhliche Gesichter, die selbstbewusst durch eine neue offene Tür gehen“, sagt Hartmann. Das sei jedes Jahr ein besonderer Moment für ihr „tolles Team“ und der Lohn für sehr viel Engagement.

Unsere Kinder sind nicht dümmer, sie sind nur weniger gefördert und haben schlechtere Startchancen
Christiane Hartmann, Schulleiterin James-Krüss-Grundschule Ostheim

Die Erfolgsgeschichte verdankt sich zwei Säulen. Die James-Krüss-Grundschule ist eine der ersten Schulen in Nordrhein-Westfalen gewesen, die vor drei Jahren Familiengrundschulzentrum geworden ist. Das Konzept stammt von der Wübben-Stiftung, deren Vision es ist, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft gerechte Bildungschancen erhalten. Finanziert wird es aus NRW-Landesmitteln. Kern ist, Grundschulen analog zu den Familienzentren der Kitas zu Orten der Begegnung, Beratung und Bildung für Kinder und ihre Eltern zu machen.

Alle Angebote von Prävention, über Erziehung bis hin zu Gesundheit werden hier in der Schule gebündelt und mit der Arbeit des multiprofessionellen Teams verzahnt: Um Klassenlehrerin und Schulleitung herum gruppieren sich vor Ort die Leitung des Offenen Ganztags, Schulsozialarbeiter, Sozialpädagogen, eine Sonderpädagogin und eine durch das Grundschulfamilienzentrum finanzierte Gesundheitslotsin. Es ist eine Kinderkrankenschwester, die, angebunden an das Gesundheitsamt, die Familien je nach Bedarf zu Kinderarzt, Jugendamt oder Ernährungsberatung lotst. „Es gibt viele Gesundheitsangebote außerhalb der Schule. Aber die Familien kennen diese nicht“, erläutert Hartmann das Problem. Erst durch die Hilfe der Lotsin finden sie dorthin.

Alle Professionen sind an der Schule verortet und arbeiten in enger Abstimmung arbeitsteilig untereinander – gesteuert durch eine Leitung des Grundschulfamilienzentrums. In enger Absprache wird jede einzelne Familie ihren Bedürfnissen gemäß beraten.

Gleichzeitig werden die Eltern gefragt, was sie sich wünschen: So gibt es derzeit ein Sportangebot für adipöse Kinder, die Hemmungen haben, in einen regulären Sportverein zu gehen. Es gibt den Kurs „Mama lernt Deutsch“, zu dem viele Mütter regelmäßig in die Schule kommen. Oder einen Radfahrkurs für Eltern. Beim Frauenfrühstück gibt es Anleitung, wie man ein Haushaltsbuch führt oder wie man auch in einer kleinen Wohnung gute Lernbedingungen für sein Kind schaffen kann.

Jetzt im dritten Jahr ernten sie hier die Früchte: „Die Eltern kommen gerne, Vertrauen ist gewachsen“, sagt Hartmann. Jetzt wollen sie auch selbst etwas zurückgeben, organisieren eigenverantwortlich Ausflüge mit der Schulgemeinschaft oder Spielenachmittage. „Statt hier ein Einzelprojekt aufzusetzen und da das nächste, gehen Familiengrundschulzentren endlich das Ganze an. Dadurch verändert sich Schule“, resümiert Hartmann.

150 Familiengrundschulzentren in Nordrhein-Westfalen

Weil das Konzept sich bewährt hat, entwickeln sich mittlerweile in NRW 150 Grundschulen zu Familiengrundschulzentren. Nach Ansicht der Opposition reicht das nicht. Jede Brennpunktgrundschule in Nordrhein-Westfalen müsse Familiengrundschulzentrum werden, um das Problem mangelnder Bildungsgerechtigkeit überall anzugehen, fordert die SPD. Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Zentren derzeit nur bis nächstes Jahr gesichert ist. „Da brauchen wir Verlässlichkeit“, sagt Hartmann und verspricht: „Wir vergolden hier jeden Euro, der in uns investiert wird.“

Die zweite Säule des Erfolgs neben dem Familiengrundschulzentrum ist die Qualität des Teams im Lehrerzimmer. An der James-Krüss-Grundschule arbeiten nämlich anders als an vielen Brennpunktgrundschulen des Landes keine Seiteneinsteiger. „Alle Lehrerinnen und Lehrer hier sind Vollprofis. Und das ist angesichts der didaktisch anspruchsvollen Arbeit auch extrem wichtig“, erläutert Hartmann. Sie ist dankbar für die „kluge Personalpolitik der Kölner Schulaufsicht“, die diesen Kurs für die Brennpunktschulen unterstützt.

Wenn Hartmann selbst Vertretungsstellen besetzen muss, wirbt sie bei den jungen Kolleginnen und Kollegen dafür, sich mal für eine Zeit auf das Wagnis einzulassen. „Das Arbeiten hier ist anstrengend. Es braucht viel Idealismus. Aber wenn ich daran mitwirken kann, dass solche Kinder die Schule trotz aller Widerstände mit Erfolg verlassen, ist das sehr erfüllend.“

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