Bestseller-Autor Benjamín LabatutÜber dieses Genie schwieg sich Nolans „Oppenheimer“ aus

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Robert Oppenheimer (links, mit Zigarette in der Hand) und John von Neumann stehen vor dem frühen Universalrechner „MANIAC“ im Keller des Institute for Advanced Study in Princeton.

Robert Oppenheimer (l.) und John von Neumann vor dem „MANIAC“-Computer

In seinem neuen Roman „Maniac“ zeigt Benjamín Labatut, wie John von Neumann das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz heraufbeschworen hat.

Als Lee Sedol, der beste Go-Spieler der Welt, von seiner Rauchpause zurückkehrt, hat das Computerprogramm AlphaGo längst seinen Zug gemacht. Nummer 37. Die Kommentatoren des Matches im Four Seasons Hotel in Seoul schütteln die Köpfe, sie sind verwirrt. Das sei einfach ein schlechter Zug. Kein Mensch hätte den Stein ausgerechnet dort auf das Brett gelegt.

Der Zug, schreibt der chilenische Autor Benjamín Labatut in seinem neuen Roman „Maniac“, der jetzt bei Suhrkamp erschienen ist, sei freilich auch mit nichts zu vergleichen, was ein Computer jemals geboten hätte. „Wenn Historiker dereinst auf unsere Zeit zurückblicken und versuchen, den ersten Schimmer einer echten künstlichen Intelligenz auszumachen“, heißt es im Buch, „finden sie ihn womöglich in einem einzigen Zug aus der zweiten Partie zwischen Lee Sedol und AlphaGo, gespielt am 10. März 2016: Zug 37.“

Lee Sedol, der jetzt wieder Platz nimmt, erkennt sofort, dass etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Für einen Sekundenbruchteil steht ihm der Mund offen, dann verzieht er die rechte Seite zu einem Grinsen, lehnt sich zurück und zupft nervös an seiner Unterlippe. Man kann das sehr gut in Greg Kohs Dokumentarfilm „Alpha Go“ (2017) beobachten. Schöpferisch und wunderschön sei dieser Zug gewesen, sagt der Go-Meister später. In diesem Moment habe er verstanden, dass „AlphaGo“ mehr als eine Maschine ist. Lee Sedol verliert die Partie und auch das Turnier.

Szene aus dem Dokumentarfilm „Alpha Go“ (2017)

Der Go-Meister Lee Sedol (rechts) spielt gegen das KI-Programm AlphaGo

Das Duell Mensch gegen Maschine macht indes nur das letzte Viertel von „Maniac“ aus, als logischer Schluss einer Entwicklung, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem Siegeszug der dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufenden Quantenmechanik begann. „Ein Dämon in der Seele der Physik“ war da herangewachsen, lässt Labatut den Wiener Physiker Paul Ehrenfest klagen, „ein Geist, den weder seine noch irgendeine nachfolgende Generation wieder zurück in die Flasche bekäme“.

Ehrenfests tragische Geschichte wird auf den ersten 40 Seiten des Buches erzählt. Obwohl der als begnadeter Vermittler von den Vertretern der klassischen Physik und den Quantenrevolutionären gleichermaßen geschätzt wird – Albert Einstein ist sein bester Freund – resigniert er selbst vor dieser „mathematischen Pest“, die sich jeder Anschaulichkeit entzieht. Ehrenfest flieht vor den Nazis nach Amsterdam, holt auch seinen mit dem Down-Syndrom geborenen Sohn aus einer deutschen Einrichtung dorthin. Doch vor dem eigenen Todestrieb kann er sich nicht schützen: Er sieht eine „zutiefst unmenschliche Form von Intelligenz“ heraufdämmern, die mit „gottgleicher Gewalt die klügsten Männer und Frauen betöre“.

Immer tiefer versinkt Ehrenfest im Abgrund zwischen den Atomen, bis er im September des Jahres 1933 zuerst seinen behinderten Jungen und dann sich selbst erschießt.

Vor drei Jahren gelang Benjamín Labatut mit „Das blinde Licht“ ein Weltbestseller

Vor drei Jahren gelang Benjamín Labatut mit „Das blinde Licht“ ein Weltbestseller und auch in dem ging es – in einer eigenwilligen Mischung aus Biografie, Kurzgeschichte, Essay und dunkler Prophetie – um jene Chemiker, Physiker und Mathematiker, die das 20. Jahrhundert mit seinen unvergleichlichen Schrecken und wissenschaftlichen Erkenntnissen hervorgebracht hatte, um den Kipp-Punkt zwischen äußerster Rationalität und Irrsinn. So umwälzend „Das blinde Licht“ im ersten Jahr der Pandemie erschien, hatte das Buch doch klar identifizierbare stilistische Vorläufer, etwa in der „poetischen Nicht-Fiktion“ W.G. Sebalds oder in den erfundenen Autorenbiografien Roberto Bolaños.

Auch in „Maniac“ spürt Labatut den „Wahnträume der Vernunft“ nach, wie er den langen Mittelteil des Buches untertitelt hat, in dem der Autor mit den Stimmen von Freunden, Partnern und erbitterten Konkurrenten das vergleichsweise kurze, aber folgenschwere Leben des ungarischen Universalgelehrten John von Neumann erzählt. „Der klügste Mensch des 20. Jahrhunderts“, heißt es zu Anfang dieser kubistisch zusammengesetzten Kurzbiografie, „ein Außerirdischer unter uns.“ Sein erster Lehrer bescheinigt ihm (in Labatuts Version der Dinge) eine „unheimliche, maschinenartige Intelligenz“, eventuell genau die, welche Paul Ehrenfest in die Verzweiflung stürzte.

Die meisten Mathematiker beweisen, was sie beweisen können. Von Neumann beweist, was er beweisen will.
Spruch unter Mathematikern

Von Neumann schafft nicht nur die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik, er reüssiert in so gut wie jedem Gebiet, mit dem er sich en passant beschäftigt: „Die meisten Mathematiker beweisen, was sie beweisen können. Von Neumann beweist, was er beweisen will“, zitiert Labatut einen damals populären Spruch unter dessen Kollegen.

Mit seiner vielseitigen einsetzbaren Begabung ist von Neumann vielleicht die Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts. Man wundert sich, warum Christoph Nolan ihn, der als Berater von den Wissenschaftlern in Los Alamos geradezu bestürmt wurde, in seinem erschöpfenden „Oppenheimer“-Biopic nicht erwähnt. Wahrscheinlich, weil er seinen eigenen Drei-Stunden-Film verdient hätte.

In „Maniac“ lässt Labatut den damals noch jungen Quantenphysiker Richard Feynman – der Bongo spielend und feixend im Film vorkommt – von diesen Besuchen berichten. Von Neumann verlangt, bei jedem Besuch eine Partie Go gegen Feynman zu spielen, obwohl er stets schmollend verliert, weil selbst ein Genie nicht den bestmöglichen nächsten Zug berechnen kann: „Das wurde so nervig, dass Oppenheimer mir sagte, ich solle das Go-Brett verstecken, sobald von Neumann im Anmarsch war.“

Später arbeitet John von Neumann im von J. Robert Oppenheimer geleiteten Institute for Advanced Study in Princeton. In dessen Keller stellt der von ihm entworfene Universalrechner „MANIAC“ – in seiner Architektur der Vorläufer aller heutigen Computer – tagsüber Berechnungen für die Wasserstoffbombe an. Nachts generiert er zelluläre Automaten, Zahlenwesen, die sich nach den Gesetzen der Evolution weiterentwickeln sollen. Zur gleichen Zeit entwirft von Neumann seine Spieltheorie, auf deren Axiomen sowohl die Strategie der nuklearen Abschreckung beruht – als auch die KI hinter AlphaGo.

Und noch während John von Neumann in einem Militärkrankenhaus qualvoll an Krebs stirbt – bewacht von MPs, denn selbst, was er delirierend von sich gibt, gilt noch als Staatsgeheimnis – lässt ihn Labatut von selbstreplizierenden Maschinen träumen, „von gewaltigen Computerterminals, die digitales Leben generierten, und einer riesigen intergalaktischen Diaspora von Raumschiffen, die ihre eigenen Nachkommen zeugten“. Das wird, wie zuerst Lee Sedol und nun auch jeder „Maniac“-Leser versteht, noch kommen.

„Maniac“, 395 S., 26 Euro, ist bei Suhrkamp erschienen

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