Buch für die Stadt„Unsere Lust, Lügen zu hören“

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Köln – Es mag sein, dass die eine oder andere Lüge erzählt wurde an diesem Sonntagmittag im Depot 1 des Schauspiel Köln. Schlimm wäre das nicht, sind Lügen doch, wie man innerhalb von zwei vergnüglichen Stunden erfuhr, eine höchst ambivalente Sache: zwar verwerflich auf der einen Seite, jedoch durchaus notwendig auf der anderen. „Jeder Mensch lügt laut Statistik mindestens einmal am Tag“, sagte Ayelet Gundar-Goshen auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne. Und das sei noch „freundlich geschätzt“.

Ayelet Gundar-Goshen (1)

Ayelet Gundar-Goshen bei der Matinee im Schauspiel Köln

Die israelische Schriftstellerin muss es wissen. Schließlich hat sie einen wunderbaren Roman mit dem Titel „Lügnerin“ geschrieben, der im Mittelpunkt der diesjährigen Leseaktion „Ein Buch für die Stadt“ in Köln und der Region steht. In der Eröffnungsveranstaltung am Sonntag, die kundig-souverän moderiert wurde von Joachim Frank, Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“, erzählte die Israelin vom Entstehen ihres Romans und natürlich vom Wesen der Lüge, ohne die der Mensch kein Mensch wäre.

Es ist bereits die 17. gemeinsame Leseaktion von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und des Literaturhaus Köln, und nicht nur Kölns Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach wünschte dem „Buch für die Stadt“ noch viele weitere Jahre des Bestehens. „Wir lesen noch, und wir lesen weiter und weiter.“ Schließlich sei Kölns Freundschaft zum Buch beständig und groß. Was Literaturhaus-Chefin Bettina Fischer zuvor schon klargestellt hatte. Denn kaum eine Stadt habe eine solche Aktion so lange durchgehalten wie Köln. Welch gute Wahl Ayelet Gundar-Goshens Roman in Zeiten wie diesen ist, betonte Carsten Fiedler, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Das Buch entlarve die gegenwärtige Empörungsdemokratie und zeige, welche Folgen Fake-News haben könnten. Das „Buch für die Stadt“ könnte „zeitgemäßer und aktueller“ nicht sein.

Eine Lüge hat viele Funktionen

Die Bereitschaft der Menschen zum Lügen sei schon immer groß gewesen, sagte Ayelet Gundar-Goshen. Eine Lüge habe viele Funktionen. Eine davon sei der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit und Beachtung. Was die Protagonistin ihres Romans, die Eisverkäuferin Nuphar, eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die komplexbeladene 17-Jährige beschuldigt einen abgehalfterten Schlagersänger zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs. Und sonnt sich in den nächsten Monaten wohlig in der allgemeinen Anteilnahme, die ihr aufgrund dieser folgenreichen Lüge entgegengebracht wird.

Manchmal erfinde man Dinge, um ein bisschen weniger allein zu, heißt es dazu im Buch. Eine Erkenntnis, die die Heldin mit der bald 90-jährigen Raymonde teilt – diese gibt sich zu Unrecht als Holocaust-Überlebende aus.

Sie sei durch eine wahre Geschichte zu ihrem dritten Roman inspiriert worden, erzählt die Autorin. Eine befreundete Rechtsanwältin habe ihr von dem Fall eines illegalen Einwanderers erzählt, der wegen eines sexuellen Übergriffs vor Gericht gestanden habe. Doch das vermeintliche Opfer, eine junge Israelin, habe sich als Lügnerin entpuppt.

„Für meine Freundin war das junge Mädchen ein Monster“, sagt Ayelet Gundar-Goshen. Sie hingegen habe sich gefragt, was hinter dieser Geschichte stecke. „Warum greift jemand zu einer solch gewaltigen Lüge? In welcher Not mag das Mädchen gewesen sein, um so zu handeln?“ Die studierte Psychologin kennt sich von Berufs wegen hervorragend aus mit den Untiefen der menschlichen Psyche. „Mich interessiert nicht, was passiert ist, sondern, warum jemand etwas getan hat. Welches Schicksal verbirgt sich hinter seiner glatten Fassade?“

Eine rote Fahne, die gehisst wird

Zu Recherchezwecken habe sie Freunde und Bekannte gefragt, wann die in ihrem Leben zum ersten Mal die Unwahrheit gesagt haben. „Die erste Lüge eines Kindes ist ebenso elementar wie sein erstes Wort. Sie zeigt, dass der Mensch nicht länger transparent, durchschaubar ist, sondern sich unabhängig macht von anderen Instanzen.“ Lügen erzählten oft mehr über einen Menschen als die Wahrheit, so ihre Erfahrung. Wenn einer ihrer Patienten zu lügen beginne, wisse sie sofort, dass sie einen wunden Punkt berührt habe. „Es ist wie eine rote Fahne, die gehisst wird, wenn es ans Eingemachte geht.“

Nuphar beschert ihre Lüge eine Welle von Aufmerksamkeit, die das unscheinbare junge Mädchen aufblühen lässt wie eine Wüstenblume im Regen. In der Schule ist sie, das pickelige Pummelchen, der Star. Sie wird von Talkshow zu Talkshow gereicht, selbst der israelische Staatspräsident empfängt „die tapfere junge Eisverkäuferin“. Nuphars Fall ist zu einem Medienereignis geworden, das ganz Israel in Atem hält.

Lügnerin

Cover des Romans "Lügnerin" von Ayelet Gundar-Goshen - das "Buch für die Stadt" 2019

„Sind wir nicht mit daran schuld, wenn wir belogen werden“, hinterfragt die Autorin die Mechanismen von Fake-News. „Wir alle sind Geschichtsjunkies und süchtig nach aufregenden Storys, ob sie nun stimmen oder nicht.“

Selbst Politikern wie Donald Trump oder dem israelischen Staatspräsidenten Benjamin Netanjahu könne man nicht die alleinige Schuld an ihren Lügen zuschieben. „Wir müssen uns fragen, warum wir diese Politiker gewählt haben, und uns unserer eigenen Verantwortung und unserer Lust stellen, Lügen zu hören.“

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