Jubiläumsjahr des AusnahmekünstlersWer war Joseph Beuys, der Menschenfischer?

Lesezeit 9 Minuten
NRW-Joseph-Beuys_1975_©Foto_Caroline-Tisdall

Joseph Beuys

Köln. – Es gibt diesen schönen Fernsehmitschnitt aus dem Jahr 1982, in dem Joseph Beuys zu singen versucht. Er tritt gemeinsam mit der Band „Die Deserteure“ in der WDR-Sendung „Bananas“ auf, wippt etwas steif im Rhythmus eines von BAP-Gitarrist Klaus Heuser komponierten Antikriegssongs und bellt heiser friedensbewegte Schüttelreime ins Mikrofon: „Doch wir wollen Sonne statt Reagan/ Ohne Rüstung leben/ Ob West/ Ob Ost/ Auf Raketen muss Rost.“ Gegen Ende des eingängigen, aber auch gnädig kurzen Songs schwingt Beuys das Mikrofon und muss selbst lachen.

Als fröhlich dilettierender Sänger findet der 1986 verstorbene Joseph Beuys immer noch einen direkten Draht zum Publikum – die Botschaft von „Sonne statt Reagan“ versteht auch, wer für Fettecken oder soziale Skulpturen wenig übrig hat. Allerdings ist der Bananas-Beuys nicht gerade typisch für den Jahrhundertkünstler, der das Publikum zu Lebzeiten und über den Tod hinaus in treue Gefolgsleute und ebenso treue Verächter spaltete. Wo Beuys war, war meistens Aufregung, denn schließlich wollte er nicht weniger erreichen, als die (für ihn) an Haupt und Gliedern erkrankten westlichen Gesellschaften zu heilen.

Zuspruch von den 68ern

Dieses Versprechen bescherte dem „Menschenfischer“ Beuys vor allem in den revolutionär gestimmten 1960er Jahren viel Zuspruch, und es macht seine Kunst in gewisser Hinsicht zeitlos. Beuys glaubte, die Medizin zu kennen, die uns alle vor dem Schlimmsten retten kann. Die Details seiner Rezeptur verloren sich zwar im Esoterischen, doch hatte sie, wie er oft erzählte, immerhin ihn selbst geheilt.

Am 12. Mai dieses Jahres wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden, was nicht nur die rheinischen Museen zum Anlass nehmen, sein künstlerisches Werk gebührend zu würdigen. Doch gibt es viele gute Gründe, sich dem Künstler Beuys zunächst über seine Lebensgeschichte zu nähern – das Beste ist, dass Beuys selbst seine Kunst mit einem biografischen Mythos begründete.

Das könnte Sie auch interessieren:

In der sogenannten Tatarenlegende berichtete er davon, wie er im April 1944 als Bordfunker der Luftwaffe über der Krim abgeschossen, von Nomaden aus dem Flugzeugwrack geborgen und zwölf Tage lang von diesen gesund gepflegt wurde: „Sie rieben meinen Körper mit Fett ein, damit die Wärme zurückkehrte, und wickelten mich in Filz, weil Filz die Wärme hält.“ Aus diesem Erlebnis leitete Beuys später seine symbolische Verwendung lebenspendender Materialien ab und bis zu einem gewissen Grad auch die Idee, dass sich der rationale „Westmensch“ mit dem spirituellen „Ostmensch“ vereinen müsse.

Mittlerweile haben verschiedene Biografen die Tatarenlegende als Beuys’sche Selbststilisierung entlarvt. Laut Unterlagen der Wehrmacht wurde Beuys bereits am Tag nach dem Absturz mit einer Platzwunde und einer Gehirnerschütterung ins Feldlazarett eingeliefert; aus Filz waren lediglich die Bettdecken der deutschen Sanitäter. Einen wahren Kern hat das Märchen allerdings: Der Krieg und die Jugend im NS-Staat prägten Beuys und zogen ihre Spur durch sein gesamtes Werk.

Seine frühe Neigung zur NS-Ideologie hat Beuys nie geleugnet, doch seine geradezu schwärmerischen Erinnerungen an seine Zeit als Hitlerjunge in Kleve liest man heute mit Beklemmung. In der „völkischen“ Gemeinschaft fand er offenbar etwas, was er bei seinen distanzierten Eltern vermisste: menschliche Wärme und Abenteuersinn. Im Frühjahr 1940 meldete sich Beuys freiwillig zur Luftwaffe, kam im besetzten Polen erstmals zum Einsatz und später bei der blutigen Eroberung der Krim. Nach seiner Genesung wurde er unter anderem als Fallschirmspringer an der Westfront eingesetzt; 1945 geriet er, nach eigener Aussage mehrfach verwundet und hochdekoriert, in Cuxhaven in britische Gefangenschaft.

Joseph Beuys bei der Arbeit an seinen Intuitionskisten vor der Kunstakademie Düsseldorf.

Joseph Beuys bei der Arbeit an seinen Intuitionskisten vor der Kunstakademie Düsseldorf.

Von konkreten Kriegserlebnissen hat Beuys selten berichtet, und wenn, ging es um seine eigene Verwundbarkeit. Auch diese Betonung des leiblichen Schmerzes, der Kreatürlichkeit der Menschen findet sich später in seinem Werk wieder: als Christussymbolik, in seinen frühen Tierskulpturen oder in den Zeichnungen zerbrechlicher Tier- und Menschenkörper. Auf Erinnerungen an den Krieg führte Beuys zudem seine tiefe Depression zurück, die ihn Mitte der 1950er Jahre als erfolgloser, an sich selbst zweifelnder Künstler an den Rand der körperlichen Erschöpfung brachte.

Nachdem ihn die Ärzte aufgegeben hatten, fand er 1957 Unterschlupf auf dem Hof der befreundeten Familie van der Grinten – hier kam es dann zur eigentlichen Tatarenepisode im Leben Beuys’. „Ich glaube, diese Phase war für mich eine der wesentlichsten insofern, als ich mich völlig umorganisiert habe“, sagte er. „Im Grunde musste etwas absterben“, auf die Erschöpfung folgte die Erneuerung, eine „regelrechte Umwandlung“ bis hinein ins Körperliche.

Ausstellungen im Beuys-Jahr

Das künstlerische Schaffen von Joseph Beuys war so vielfältig, dass es für die Museen in der Region mehr als genug zu zeigen gibt. Am festlichen Ausstellungsreigen beteiligen sich große wie kleinere Häuser in zwölf Städten, die Bonner Bundeskunsthalle ebenso wie Museen in Aachen, Kleve, Bedburg-Hau, Krefeld, Leverkusen und Bergisch Gladbach.

Dass Köln dabei nicht mitmacht, hat weniger mit Beuys-Skepsis als mit einem schon oft beklagten Mangel an Sammelgut zu tun. Als Höhepunkte unter den Ausstellungen dürfen „Jeder Mensch ist ein Künstler“ in der Düsseldorfer Kunstsammlung (ab 27. März), „Lehmbruck-Beuys, Beuys-Lehmbruck“ in Duisburg und Bonn (ab 26. Juni), „Intuition – Dimensionen des Frühwerks von Joseph Beuys“ im Museum Kurhaus Kleve (ab 7. Oktober) sowie „Passierschein in die Zukunft“ im Kunstmuseum Bonn (ebenfalls ab 7. Oktober) gelten.

Wie in Corona-Zeiten leider üblich, steht all dies unter dem Vorbehalt, dass die Museen zum geplanten Termin wieder oder noch geöffnet haben dürfen.

Letztlich sprach Beuys hier von einer Wiedergeburt, in der „alte Erfahrungen“ zu „positiven Veränderungen umgeschmolzen werden“. Aus dieser Selbstheilung leitete Beuys offenbar die Möglichkeit einer erfolgreichen gesellschaftlichen „Umwandlung“ ab – doch deren Medium sollte nicht die klassische Kunst sein (die ihn nicht hatte retten können), sondern ein erweiterter Begriff von Kunst. Für den Beuys der 1960er Jahre besteht Kunst weniger aus einzelnen Werken, die man ins Wohnzimmer oder Museum stellt, denn aus Ereignissen, Gesprächen, Denkprozessen, die man durch konkrete Aktionen „anstoßen“ kann, die aber letztlich eine eigene Dynamik entwickeln müssen. Der berühmte Beuys’sche Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ meint im Grunde „nur“, dass jeder Mensch, weil er ein soziales Wesen ist, die schöpferische Kraft besitzt, sich, sein Leben, das Leben der anderen und damit die Welt zu verändern.

Radikaldemokratisch oder Antidemokratisch?

Sieht man sich heute Aufzeichnungen historischer Beuys-Aktionen an, wirkt das ganze schöne Konstrukt des erweiterten Kunstbegriffs allerdings nur noch halb so überzeugend. Auf der Bühne und in Galerien spielte Beuys vor allem fürs eigene Renommee (wie er überhaupt einen genauen Sinn für Selbstvermarktung hatte), die eigentliche Arbeit an der gesellschaftlichen Umwandlung fand auf der Straße statt. Als ordentlicher Professor der Düsseldorfer Kunstakademie wurden die Aktionen Beuys’ dann im engeren Sinne politischer, etwa in der berühmten Besetzung des Hochschulsekretariats. Als Protest gegen die „undemokratische“ Aufnahmepraxis der Akademie wollte Beuys 142 abgewiesene Bewerber als Schüler in seine Klasse aufnehmen und machte daraus ein für die Presse inszeniertes Happening – was schließlich zu seiner Entlassung und dies wiederum zu Solidaritätsaktionen unter den Studenten führte.

Man könnte das Beuys’sche Demokratieverständnis direkt und radikal nennen – aus heutiger Sicht wirkt vieles daran allerdings eher antidemokratisch. Für die Bundesrepublik schien Beuys jedenfalls nicht allzu viel übrig zu haben, da dieser Staat, so Beuys im Jahr 1967, die „plastischen Möglichkeiten“ der Menschen verkümmern lasse: „Diese Gesellschaft ist letztlich noch schlimmer als das Dritte Reich“ – ein Zitat, das Beuys-Kritiker vermuten lässt, er habe sich nie wirklich von den völkischen Gedanken seiner Jugend gelöst. So weit muss man nicht gehen. Trotzdem hätte man gerne gewusst, wie eine Demokratie nach Beuys’schen Vorstellungen konkret ausgesehen hätte – doch darüber schwieg sich der Künstler wortreich aus.

Bei den Grünen wurde er kaltgestellt

Beuys war stets streitbar und umstritten und wusste beides für sich zu nutzen. Mochten ihn brave Bürger (oder seine Professorenkollegen) für einen Scharlatan halten, seine Schüler verehrten ihn dafür umso mehr. Gerade die treu ergebene Gefolgschaft von Weggefährten und Interpreten provozierte allerdings auch heftigen Widerspruch und stachelte Biografen wie Hans-Peter Riegel dazu an, nach biografischen Lücken, Widersprüchen und Mythen zu suchen. Dabei kam nicht nur zutage, dass Beuys offenbar wenig Scheu vor alten, auch ultrarechten Kameraden aus der NS-Zeit kannte, sondern auch, wie stark er sich an der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners orientierte. Im Prinzip könnte man sich Beuys, den Esoteriker, sogar als Bannerträger heutiger Querdenker-Demos vorstellen, so strikt folgte er Steiners Ablehnung einer „schädlichen“, nicht ganzheitlichen Rationalität.

War Beuys also „links“ oder „rechts“, unpolitisch im Thomas Mann’schen Sinn oder eher anthroposophisch-überpolitisch (falls es das gibt)? So genau wussten das wohl auch die Grünen nicht, zu deren Gründungsmitgliedern Beuys gehörte. Als es dann ernst wurde und Beuys öffentlich darüber fantasierte, sich als Kanzlerkandidat aufstellen zu lassen, haben ihn „Realpolitiker“ wie Antje Vollmer schnell kaltgestellt. So wie Beuys in Parteitagsreden das Ende des Kapitals heraufbeschwor, hätte allerdings auch Marx nicht mehr verstanden, worum es geht.

Furchtloser Künstler

Als Künstler war Beuys hingegen in seinem Element – und dabei so furchtlos, wie nur jemand sein kann, der aus Schmerz, Ablehnung und Frustration beinahe so viel Energie zieht wie aus Zustimmung und Freude. Welcher ordentliche Kunstprofessor traute sich denn heute, bei einer Immatrikulationsfeier in der Kunstakademie Düsseldorf vor den versammelten Honoratioren der Stadt ein Rede aus lauter „ö“ zu halten, oder sich für die gesamte Länge einer Documenta in einem Bürgerbüro den Fragen von Besuchern und Passanten zu stellen? Man staunt jedenfalls, wie viele Menschen, die sich keinesfalls als Beuys-Jünger verstehen, sich voller Hochachtung und Begeisterung an ihn erinnern. Offenbar konnte er Menschen auch dann für sich gewinnen, wenn sie ihm nicht ins Netz gingen.

Joseph Beuys war der charismatischste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, schrieb einmal ein amerikanischer Kritiker. Ihm war Beuys deswegen unheimlich, dessen besondere Gabe sah er darin, anderen Menschen das Gefühl zu geben, etwas Besonderes schlummere in ihnen. Mag sein, dass dies, abgesehen vom künstlerischen Talent, ein guter Teil seines Erfolges war.

Im Vorfeld seines 100. Geburtstags muss uns der Menschenfischer in Beuys aber nicht mehr so sehr interessieren. Heute erkennt man in seiner Biografie und seinem Werk vor allem die Widersprüche der deutschen Nachkriegszeit. Auf geradezu exemplarische Weise schrieb sich bei Joseph Beuys das Erbe der NS-Zeit fort, während er sich von diesem befreien und komplett „umorganisieren“ wollte. Im Grunde war er damit selbst das fertige Produkt jenes gesellschaftlichen Wandels, den er in seinem Werk als zukünftige Utopie beschwor.

KStA abonnieren