„The Rake’s Progress“ in der Kölner PhilharmonieDirigentin Barbara Hannigan schlüpft in ein Lieferando-Outfit

Lesezeit 3 Minuten
Das Bild zeigt Barbara Hannigan mit geschlossenen Augen beim Dirigieren. Im Vordergrund sind einige verschwommene Pulte mit Notenblättern zu sehen.

Barbara Hannigan erlangte als Sängerin Ruhm, konzentriert sich nun aber auf das Dirigieren

Barbara Hannigan brachte eine Oper auf die Bühne der Kölner Philharmonie, die auf Goethes Faust anspielte.

Die übliche Kapellmeister-Laufbahn hat Barbara Hannigan erfolgreich umschifft. Die Kanadierin ist als Sängerin mit dem Schwerpunkt Neue Musik bekannt geworden; ins Dirigieren hat sie sich erst relativ spät und auf durchaus eigenwillige Weise hineingearbeitet. Etablierte Konventionen des Metiers interessieren sie nicht. Die prägende musikalische Sinneinheit ist bei ihr weniger der Takt als die Atemphrase. Um Präzision zu erwirken, braucht sie keinen Taktstock; sie sorgt einfach dafür, dass das gesamte Kollektiv im gleichen Puls schwingt.

Barbara Hannigan dirigiert in der Kölner Philharmonie ein schwedisches Orchester

Schön und gut, aber kann man mit diesen Mitteln etwas so Komplexes wie eine Opernaufführung zuverlässig steuern? Bei Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“, so viel kann man sagen, gelang es in der Kölner Philharmonie in jeder Hinsicht glänzend. Natürlich stimmten auch die Rahmenbedingungen: Die Solopartien waren mit einem jungen, hochmotivierten und perfekt einstudierten Sängerteam besetzt. Mit dem Swedish Radio Choir stand eines der besten europäischen Vokalensembles bereit; das Swedish Chamber Orchestra erwies sich bis in die letzte Position hinein als wach und flexibel agierende Solistentruppe.

„The Rake’s Progress“ („Das Leben eines Wüstlings“), 1951 in Venedig uraufgeführt, ist ein spätes Beispiel für den von allem Gefühlsdruck gereinigten Neoklassizismus, in dem der Komponist eine Zeitlang sein künstlerisches Heil suchte. Strawinskys prominente Librettisten Wyston Hugh Auden und Chester Kallman bauten den Stoff, der ursprünglich aus einem Kupferstichzyklus von William Hogarth stammt, „faustisch“ aus: Der junge Tom Rakewell geht ein Bündnis mit dem Teufel in Gestalt des sinistren Nick Shadow ein und soll am Ende für Reichtum und Wohlleben mit seiner Seele bezahlen. Die Seele kann er dem Teufel im Kartenspiel wieder abringen, nicht so seinen Geist. Am Ende verfällt er dem Wahnsinn.

Die Solisten legen sich für den „englischen Faust“ ins Zeug

Strawinsky vertonte das moralisierende Stück in einer Klangsprache, die sich auf hochartifizielle Weise der Oper des 18. Jahrhunderts annähert - inklusive der vom Cembalo begleiteten Rezitative. Die reich verzierten Arien schweben auf patternartigen Staccato-Begleitungen so anmutig dahin, als seien sie von Gluck oder Mozart komponiert. Und so wurden sie von den allesamt exzellenten Solisten in der Philharmonie auch gesungen: schmelzend, innig, virtuos.

Auf dem Podium agierten die sechs nicht einfach „konzertant“, sondern auf der Basis eines sanft angedeuteten Regiekonzepts. Elgan Llŷr Thomas zeichnete Tom Rakewells Wandel vom präpotenten Youngster aus der Muckibude zum gebrochenen Loser nicht nur anschaulich, sondern auch sehr anrührend nach. Tamara Bounazou formte seine Geliebte Anne Trulove (ein sprechender Name wie alle im Stück) als unerschütterlich treue Gretchen-Gestalt. Ihre große Bravourarie im ersten Akt war ein Glanzstück des Abends; nicht minder stark wirkte das zarte Wiegenlied, mit dem sie am Ende den umnachteten Tom in den Schlaf singt.

Die Dirigentin verzehrt ihre eigene Lieferando-Lieferung

Auch die übrigen Figuren waren pointiert angelegt: Douglas Williams sang und spielte den Nick Shadow eher kumpelhaft-jovial als mephistophelisch-glatt; Maggie Reneé machte die bizarre Verführerin Baba the Turk zur publicitysüchtigen Influencerin vor der Handy-Kamera. Robin Bailey überzeugte als geschäftstüchtiger Auktionator Sellem, Tristan Hambleton als Vater Trulove und Bordellwirtin Mother Goose - mit rauem Falsett und Netzstrumpfhose.

Star und Mittelpunkt der Aufführung blieb indes Barbara Hannigan, die auch am Pult nicht auf ihren ganz persönlichen Diven-Auftritt verzichten mochte: Sie schlüpfte zwischendurch in ein orangenes Lieferando-Outfit und verzehrte das Fastfood aus der Isoliertasche gleich selbst. In den locker-kompetenten Geist der Aufführung war dieser kleine Gag problemlos integrierbar; das Publikum reagierte am Ende angemessen enthusiastisch.

KStA abonnieren