Soziologen über Bruchstellen„Wir leben nicht in einer gespaltenen, aber in einer getriggerten Gesellschaft“

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Klima-Aktivisten machen viele Menschen über Gebühr wütend. Warum ist das so?

Warum machen Gender-Sternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen wahnsinnig? Drei Soziologen versuchen sich an einer Antwort. 

Leben wir in Deutschland in einer gespaltenen Gesellschaft? Herrschen hierzulande US-amerikanische Verhältnisse in der Debatte um Migration, Verkehr, sexuelle Identität? Die Berliner Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser sagen: Das stimmt so nicht. Entwarnung wollen sie dennoch nicht geben. Ihr gemeinsames neues Buch haben sie „Triggerpunkte“ genannt. Es hat einen akademischen Untertitel und einen populären. Der akademische steht auf dem Umschlag: „Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“. Mit dem anderen wirbt der Verlag: „Warum Gender-Sternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern“.

Mau, Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, ist bekannt dafür, präzise an den Bruchstellen der Gegenwart zu forschen. „Lütten Klein“ hieß 2019 das Vorgängerbuch des heute 55-Jährigen, benannt nach dem Rostocker Plattenbauviertel, in dem er aufwuchs. Niemand erklärte so präzise die ostdeutsche Transformationsgesellschaft, die Schwäche der politischen Parteien und den Aufstieg der AfD wie er.

Die Mitte ist relativ passiv und auch leise geworden.
Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie

Nun geht es um eine gesamtdeutsche Debatte und ihre verzerrte Wahrnehmung. Mau erklärt diese Verzerrung mit einem akustischen Problem. „Ein Befund unserer Untersuchung ist, dass es eine breite gesellschaftliche Mitte gibt, die in gewisser Weise depolitisiert ist. Die Mitte ist relativ passiv und auch leise geworden, und die Ränder sind im Verhältnis dazu relativ laut und aktivistisch“, sagt er. „Deswegen kommt uns die Gesellschaft auch so gespalten vor, weil sich einfach die akustischen Verhältnisse so ein Stück weit verändert haben.“

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Wenn diese breite, politisch passive Mitte dann einmal aktiviert wird, dann häufig über Aufreger, Kulturkampfthemen oder – wie Mau und sein Team es mit einem aus dem medizinischen Feld entliehenen Begriff bezeichnen – über Triggerpunkte: Migration, Klimawandel, Gendersternchen, trans Personen, Heizungsgesetz, Lastenrad und SUV. „So kann man Leute ein Stück weit aus der Reserve locken“, sagt Mau.

Wir leben in Deutschland aktuell nicht in einer gespaltenen Gesellschaft, sagt Mitautor Thomas Lux, „aber in einer getriggerten Gesellschaft. An Triggerpunkten kochen die Emotionen und die Wut hoch.“ Und das wiederum könne durchaus zu einer realen Polarisierung führen. „Es ist also nicht alles in Ordnung, sondern wir müssen versuchen, diese Triggerdynamik aus der öffentlichen Debatte herauszunehmen“, erläutert Lux.

Im September war Mau zu Gast in Meseberg bei der Kabinettsklausur der Bundesregierung. Er sollte den versammelten Ministerinnen und Ministern erklären, wie ihr Volk tickt. Vieles kam ihnen bekannt vor, sagt der Soziologie-Professor: „In Meseberg gab es eine relativ breite Diskussion, bei der sich auch viele Ministerinnen und Minister zu Wort gemeldet haben, jeweils auch mit eigenen Perspektiven aus dem Wahlkreis, aus der eigenen politischen Praxis.“

Emotionalisierung des Diskurses Thema bei Kabinettklausur der Bundesregierung

Als Politikberater war Mau explizit nicht eingeladen. Er arbeitet schließlich auch nicht für die Regierung und kann neutral diagnostizieren, wie eine getriggerte Gesellschaft von nicht-populistischen Parteien anzusprechen ist. Der Soziologe sagt: „Die zentrale Frage war, wie man mit einer stärkeren Emotionalisierung des öffentlichen Diskurses, mit so einer Art Affektpolitik, umgeht.“

Drei Reaktionsweisen wären möglich: „Entweder sagt man, wir springen nicht über jedes Stöckchen, das man uns hinhält. Eine andere Möglichkeit ist, selber eine Politik der Emotionen zu betreiben. Da ist jetzt vielleicht die Koalition und sind auch die handelnden Personen nicht das allererste Personentableau, an das man da denkt“, erklärt Mau. „Das Dritte wäre eine pragmatische Lösung, also mit der eigenen politischen Agenda und lösungsorientierter Politik zu überzeugen.“

Die „Polarisierungsunternehmer“ aber haben zurzeit Hochkonjunktur. Noch bleibt abzuwarten, wie sich die Marktanteile im politischen Geschäft verschieben werden, nachdem Sahra Wagenknecht mit einem neuen populistischen Angebot in den Konkurrenzkampf eingestiegen ist. Das Ansprechen der Triggerpunkte versteht die erfahrene Bestsellerautorin und Mitstreiterin in Talkshowrunden jedenfalls meisterhaft: Ihre Attacken gegen „Lifestyle-Linke“, Gendersprache, Klimaschutz und Zuwanderung lösen bei einer ihr zugeneigten Klientel Begeisterungsstürme aus – nach Umfragen stehen relevante Teile der heimatlosen Wählerinnen und Wähler ihrem neuen Angebot zumindest aufgeschlossen gegenüber.

AfD bleibt Marktführer bei der Polarisierung

Marktführer bei den Polarisierungsunternehmern aber bleibt zurzeit die AfD. Auch ihre Normalisierung beim Wahlvolk ist durch das Konzept der Triggerpunkte zu erklären, sagt Mau: „Dann findet man sich da plötzlich in einer Stadionecke des öffentlichen Diskurses wieder, wo man ursprünglich eigentlich nicht hingehört. Aber dadurch, dass einen das emotional aufreibt, hängt man an diesem Haken dran und wird dann in die andere Gruppe hineingezogen.“

Es sei „ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell von Polarisierungsunternehmern, den öffentlichen Diskurs mit einem Detektor abzuscannen, wo es diese Arten von leicht erregbaren Diskurszonen gibt, und dort die Netze auszuwerfen“.

Um Gendersternchen, Unisex-Toiletten und Lastenräder gehe es laut Mau dabei eigentlich gar nicht: „Die vordergründig bespielten Themen sind letzten Endes eine Chiffre für etwas ganz anderes, für eine allgemeine Veränderungserschöpfung oder politische Unzufriedenheiten.“

Welche Themen aber triggern die Gesellschaft, wann kippt eine sachliche Diskussion ins Emotionale? In der Soziologensprache unterscheiden Mau und seine Mitautoren zwischen „Oben-unten-Ungleichheiten“, „Innen-Außen-Ungleichheiten“, „Wir-Sie-Ungleichheiten“ und „Heute-Morgen-Ungleichheiten“. Letzteres wäre zum Beispiel der Umgang mit dem Klimawandel.

An Triggerpunkten kochen die Emotionen und die Wut hoch.
Thomas Lux, Soziologe

Die Autoren haben Menschen mit verschiedenen Hintergründen für Gesprächsrunden gecastet und ihnen bestimmte Themen vorgesetzt. Durch einen Einwegspiegel beobachteten sie diese Runden, um zu sehen, „wo Leute rote Linien ziehen, wo sie vehementer ihren Standpunkt vertreten und wo bestimmte moralische Grundintuitionen verletzt sind“.

Hitziger wird es immer, wenn bestimmte Gleichheitsvorstellungen verletzt werden oder Ideen, was als normal gelten kann. „Aber das können auch Vorstellungen von Kontrollverlust, von Entgrenzung oder Zumutung sein“, erläutert Mau. Sein Mitautor Lux ergänzt: „Durch Triggerpunkte werden bestimmte tief verwurzelte moralische Erwartungen verletzt – Gleichheitserwartung, Kontrollüberzeugung, Normalitätserwartung.“

Dass die Zumutungen weniger werden, ist für die kommenden Jahre nicht zu erwarten. Eine veränderungserschöpfte Gesellschaft, die von einer Krise in die andere geworfen wird, bietet auch weiterhin einen guten Markt für Polarisierungsunternehmer. Wirklich gefährlich wird es dann, wenn bürgerliche Parteien auf diese Triggerpunkte einsteigen. Mau warnt: „Damit normalisieren sie den Diskurs, im Hinblick auf das Vokabular und die Aggressivität der Rhetorik.“

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“. Suhrkamp. 540 Seiten, 25 Euro

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