Zum Tod von Richard SerraDie Gesetze der Physik sind wacklig wie ein Kartenhaus

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Richard Serra trägt schwarz und schaut in die Kamera.

Richard Serra vor 14 Jahren in Gijon. Der Schöpfer monumentaler Stahlskulpturen ist im Alter von 85 Jahren gestorben.

Richard Serra brachte mit seinen riesigen Stahlskulpturen Bürger und Politiker zur Weißglut. Aber das war ein großes Missverständnis. 

Richard Serra hätte ein ruhiges Künstlerleben haben können, wäre er bei Gummistreifen, improvisierten Tiergehegen und flüssigem Blei geblieben. Stattdessen begann er in den 1970er Jahren damit, riesige Stahlplatten auf öffentliche Plätze zu stellen, und wurde zu einem weltbekannten Hassobjekt für schreckhafte Bürger und Politiker. Auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit trieb Serra Wall-Street-Banker ebenso verlässlich zur Weißglut wie die Malocher des Ruhrgebiets. So etwas gelingt einem Künstler nur, wenn er sich aus den weißen Galerieräumen in die schmutzige Wirklichkeit hinaus traut.

Vermutlich hätte Serra auch als Indoor-Künstler Karriere gemacht. 1968 schleuderte er im Atelier von Jasper Johns flüssiges Blei in die Ecken und legte die erstarrten Barren wie Orakelsprüche auf dem Boden aus. Angeblich blieben von dieser Aktion vier Bleiplatten übrig, die Serra im folgenden Jahr zu einem „Kartenhaus“ zusammenlegte: Eigentlich müsste die Konstruktion in sich zusammenbrechen, doch die vier Platten halten einander in einer windschiefen Balance. 1969 war Serras Heureka-Moment: Die Gesetze der Physik spotten dem Augenschein.

Heute muten die Debatten über Richard Serras riesige Skulpturen teilweise kurios an

Auf diesem ästhetischen Fundament sind Serras monumentale Hauptwerke gebaut, von denen, dank eines engagierten Bochumer Galeristen, erstaunlich viele in Nordrhein-Westfalen stehen. 1977 zog Serras „Terminal“, drei 12,5 Meter hohe, schräg verkantete Stahlplatten, von der Kasseler Documenta an den Bochumer Hauptbahnhof, was manche Einheimische dem Wohltäter bis heute nicht verzeihen können. Der Legende nach hielt Kurt Biedenkopf als CDU-Spitzenkandidat für NRW vor der rotbraunen Skulptur eine Wahlkampfveranstaltung ab. Sein heiliges Versprechen, den riesigen „Schandfleck“ wieder abreißen zu lassen, trug ihn allerdings nicht ins Amt.

Heute muten die Debatten über Serras riesige Skulpturen teilweise kurios an, denn das Bochumer „Terminal“ steht beispielsweise bescheiden auf einer Verkehrsinsel und erschließt sich jedermann sofort. Während einem der eigene Verstand sagt, dass diese kippelige Konstruktion unmöglich halten kann, steht der Beweis des Gegenteils davon völlig unbeeindruckt einfach da. Wer sich ins Innere des gelegentlich zur Pinkelrinne herabgewürdigten Meisterwerkes wagt, wird zudem mit einem „unmöglichen“, weil aus lauter Schrägen gebildeten rechtwinkligen Himmelblick belohnt.

In den blauen Himmel ragt auf der Schurenbachhalde in Essen (Nordrhein-Westfalen) die etwa 15 Meter hohe stählerne Bramme von Bildhauer Richard Serra.

Richard Serras „Bramme für das Ruhrgebiet“auf der Schurenbachhalde in Essen

Das Spiel mit den scheinbaren Irrtümern der Physik variierte Serra auf immer neue, niemals ermüdende Weise. Bei ihm hängen Stahlbrocken in der Luft, geschwungene Bögen stehen so haltlos in der Landschaft, dass jeder Lufthauch sie umwehen sollte, und gestapelte Stahlblöcke trotzen der Schwerkraft, wie es dem Künstler und der Mathematik gefällt. Auch das Ruhrgebiet hat längst seinen Frieden mit Richard Serra gemacht und ihm die Essener Schurenbachhalde für ein Wahrzeichen überlassen. Seine „Bramme für das Ruhrgebiet“, ein schmaler, 14,5 Meter hoher Streifen gewalzten Stahls, steht im Abendlicht wie das Gipfelkreuz des ausgehenden Industriezeitalters.

Auch im heiligen Köln hat Serras industrielle Rostästhetik eine bleibende Heimat gefunden. Seine Schmiedestahlskulptur „The Drowned and the Saved“ bildete 1997 den ästhetischen Grundstein des erzbischöflichen Museums Kolumba, nachdem sie 1992 in der Synagoge Stommeln zu sehen gewesen war. Im pathetischen Werktitel spielte Serra auf das prekäre Verhältnis der drei Elemente seines altarartigen Gebildes an. Der schwere Stahlpfeiler des Altartisches, so Serra, könne ebenso wenig ohne seine stählernen Tischbeine sein wie die Lebenden ohne die Toten.

Aus diesem melancholischen Bewusstsein erklärt sich auch, warum Serra zu den Schöpfern des Berliner Holocaust-Denkmals zählt. Das wogende Stelenfeld aus unterschiedlich hohen Betonblöcken geht auf einen gemeinsamen Entwurf Serras mit Peter Eisenman zurück; Serra stieg aus dem Projekt aus, weil er den Änderungswünschen von Bundeskanzler Helmut Kohl nicht nachkommen wollte. Auf politische Kompromisse ließ sich Richard Serra ebenso wenig ein wie auf ästhetische. Sie hätten das Kartenhaus seines Werks wohl zum Einsturz gebracht. Jetzt ist Serra an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Er wurde 85 Jahre alt.

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