20er-Jahre-SerieWarum „Berlin Alexanderplatz” der größte Roman dieser Dekade ist

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Der Alexanderplatz während einer Demonstration im Jahr 1923.

Der Alexanderplatz während einer Demonstration im Jahr 1923.

Köln – Die nach den Romanen von Volker Kutscher gedrehte TV-Serie „Babylon Berlin“ wird häufig als gelungene atmosphärische Vergegenwärtigung der deutschen Reichshauptstadt in den 20er Jahren gefeiert. Während Kutschers Romane abweichende Titel tragen – „Der nasse Fisch“ zum Beispiel –, aktiviert der Serientitel eine andere Tradition, die aus der typologischen Bibelexegese stammt und schon früh auf das Berlin der Weimarer Zeit, das sprichwörtliche „Sündenbabel“, angewandt wurde.

So etwa in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, jenem 1929 publizierten Roman, in dem erstmals in Deutschland die Großstadt in engerem Sinn literaturwürdig wurde. Der assimilierte Jude (und spätere Katholik) kannte selbstredend seine Heilige Schrift, und so lagen einschlägig konnotierte Allegorien nahe: Die Metropole Berlin wird zur „Hure Babylon“, Franz Biberkopf, die Hauptfigur, zum gewalttätigen Kaldäer, seine Freundinnen Eva und Mieze figurieren als weibliche Erlösergestalten.

Alfred Döblin

Alfred Döblin

Trotzdem ist diese Überformung merkwürdig genug, man erwartet Mittelalterliches in diesem literarischen Umfeld nicht – dort, wo die Großstadt mit überwältigender Brutalität gleichsam selbst zu sprechen sich anschickt: mit ihrer hektischen Lebensgier, ihrem beschleunigten Tempo, dem Zerfall ihres urbanen Sinnaufbaus, auch in der sozialen Devianz ihres Proletarier- und Kriminellen-, ihres Vergnügungs- und Rotlichtmilieus.

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Tatsächlich will uns im Abstand der Jahrzehnte scheinen, dass „Berlin Alexanderplatz“ nicht nur ein authentisches Abbild der 20er Jahre liefert, sondern auch dank seiner literarischen Formen und Verfahren deren Geist selbst kongenial verkörpert. Die Zeitgenossen sahen das genauso – wie die erregte, in Zustimmung und Ablehnung forcierte Diskussion im Anschluss an die Erstveröffentlichung zeigt.

„Großangriff auf die deutsche Landschaft”

Von einem „neuen Großangriff auf die deutsche Landschaft“ sprach der deutschnationale Antisemit Wilhelm Stapel – und schloss damit kurz, was ja methodisch zunächst einmal getrennt gehört: Die Darstellung der Sache wird unvermittelt zur Sache selbst. Die Vorwürfe indes kennt man, es ist die klassische Kritik der reaktionären Rechten an der kulturellen Moderne, der Aufstand der Provinz gegen die Metropole. Wie sonst, so drohe auch hier der nihilistisch-amoralisch-dekadente Asphaltdschungel die treudeutsche Lebensart zu überwuchern und zu verdrängen. Übersehen wurde dabei freilich, dass es Döblin um eine literarische Phänomenologie der modernen Stadt, nicht um die Rechtfertigung einer Existenzform ging. Schließlich ist es deren Gewalt, der sich der kriegstraumatisierte ehemalige Zement- und Transportarbeiter Biberkopf mental nicht gewachsen zeigt – zunächst jedenfalls.

Der rechten Kulturkritik aber war das schon zu viel. Und unbestreitbar geht Döblin – besser: der auktoriale Erzähler – auch in Ecken seiner Berlin-Welt, die nach dem Willen einer konservativen Ästhetik nie vor die Augen einer gesitteten Lesewelt hätten gestellt werden dürfen. Und er tut es mit jenen experimentellen Mitteln, die dem konventionellen Abbildrealismus definitiv den Laufpass geben: mit kurzen, harten, am frühen Kino orientierten Schnitten, mit einer Montagetechnik, die Nachrichten, Reklame und Straßenjargon hektisch zusammenrührt.

Berlin wird zum Helden

Der „Held“ Biberkopf gerät ein Stück weit auch unter die Räder dieser neuartigen Darstellungstechniken, die das durchaus durchscheinende Modell des überkommenen Bildungsromans dekonstruieren. Und zum eigentlichen Helden wird Berlin, und zwar in einem relativ schmalen und exakt zu bestimmenden Zeitfenster. Die Handlung beginnt mit Biberkopfs Entlassung aus dem Gefängnis im Spätsommer 1928 und erstreckt sich über etwa anderthalb Jahre. Das ist tatsächlich das Zentrum der „Goldenen 20er“: Bürgerkrieg und Inflation sind einstweilen vorbei, und die politische Radikalisierung in der Endphase der Weimarer Republik kündigt sich am Schluss des Buches erst an. Aber selbst wenn Döblin kein im engeren Sinn politisches Buch schreibt: Die Spannungen, die Sprengpotenziale, die das Ganze wenige Jahre später zum Einsturz bringen werden, sind allemal spürbar.

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„Die Weimarer Republik“, schreibt Peter Sloterdijk in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“, „gehört zu den historischen Phänomen, an denen man am besten studieren kann, wie die Modernisierung einer Gesellschaft bezahlt sein will. Man tauscht enorme technische Errungenschaften gegen zunehmendes Unbehagen in der Unkultur; zivilisatorische Erleichterungen gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit. Riesige Unternehmungen schießen in die Höhe, aber im Halbschatten bleibt die Frage: wozu das Ganze, und was geht es mich an?“

Und wem nichts mehr heilig ist, der wird gierig. Für dieses epochenspezifische Lebensgefühl ist „Berlin Alexanderplatz“ ein sensibler Resonanzboden. Das Jahrzehnt zeitigte die Entstehung zahlreicher Romane, die heute zur Weltliteratur zählen. Aus dem deutschsprachigen Bereich seien hier nur Thomas Manns „Zauberberg“, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Hermann Hesses „Steppenwolf“, Hermann Brochs „Schlafwandler“, Jakob Wassermanns „Der Fall Maurizius“ genannt. Sie aber wirken in aller Großartigkeit teils bemerkenswert zeitfremd – dringt etwa etwas vom Lärm der Welt in ein Davoser Sanatorium? Der Zeit den Puls fühlt vor allem „Berlin Alexanderplatz“. Er ist nicht ein, er ist der Roman der 20er Jahre.

DIE SERIE

Die stürmischen 1920er Jahre erscheinen uns bedrängend nah. Und dann doch wieder ganz fern in ihrer schier unersättlichen Gier nach Umwälzung. Vielleicht können wir ja immer noch etwas von den mal goldenen, immer wilden 20er Jahren lernen? Wir fragen in unserer neuen Serie nach, was uns die Bilder, Filme, Bücher und Musikstücke, die im anbrechenden Jahrzehnt ihren 100. Geburtstag begehen, heute noch zu sagen haben.

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