Daniel Kehlmanns „Tyll“Ein überragender Roman zum Dreißigjährigen Krieg

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Vranex Gemälde

Marodierende Soldaten auf einem Gemälde von Sebastian Vrancx (1573 - 1647)

Köln – „Wie lebt man“, so lesen wir in den Gedanken des Grafen Martin von Wolkenstein, „wie hält man es aus, wenn die Luft voll Metall ist?“ Glücklich diejenigen, die es nicht so genau zu sagen wissen. Denn diese haben keine Kriegserfahrung hinter sich. Auch Daniel Kehlmann gehört zu ihnen. Und dennoch wagt sich der Autor, 1975 in München geboren, an einen Roman, in dem der Krieg die Hauptrolle spielt. Dieses Wagnis besteht er in einer solch spektakulären Weise, dass sich der Leser mit Haut und Haaren in den Dreißigjährigen Krieg versetzt sieht. Kann sein, dass es ganz anders war. Doch glauben mag man das nach der Lektüre erst einmal nicht.

„Tyll“ ist der historische Roman der großen europäischen Krise im 17. Jahrhundert, an deren Beginn vor 400 Jahren nun mehr und mehr erinnert wird. Der Historiker Herfried Münkler macht in seinem druckfrischen Monumentalwerk „Der Dreißigjährige Krieg“ ausdrücklich auf Parallelen zu den religiös-gewalttätigen Verwerfungen, den Eiferern und den marodierenden Soldatenhaufen rund um den sogenannten „Islamischen Staat“ aufmerksam. Allerdings betont er auch die Unterschiede.

Freiheit des Geschichtenerzählers

Kehlmann hat kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben. Zwar orientiert er sich an den überlieferten Ereignissen, vom Prager Fenstersturz bis zum Westfälischen Frieden. Doch nutzt er alle Freiheiten, die einem Geschichtenerzähler zur Verfügung stehen, um für Spannung, Anteilnahme und Erkenntnis zu sorgen. So hat auch der letzte Drache des Nordens seinen märchenhaften Auftritt, leider genau in dem Moment, in dem er abtritt, unbemerkt von aller Öffentlichkeit: „Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.“ Es ist das große Welttheater, das Kehlmann auf die Bühne bringt.

Mit von der Partie sind Gott und Teufel, König und Bettelmann, Verräter und Hexenjäger, Protestanten und Katholiken, Feiglinge und Wagemutige, der Barockdichter Paul Fleming und einmal auch William Shakespeare. Es kracht und stinkt in diesem Deutschland, es ist feucht und dunkel. Aber Kehlmann schildert all das so, dass es keine Tortur ist, sondern ein süffiges Leseerlebnis. Und mittendrin treibt Tyll Ulenspiegel seine frechen Späße.

Tyll Ulenspiegel tanzt auf dem Seil

Der legendäre Gaukler mit der Narrenkappe stammt zwar aus einer ganz anderen Epoche. Gleichwohl ist er hervorragend geeignet, uns durch ein Reich außer Rand und Band zu führen. Nicht als abgeklärter Cicerone, sondern als gebeutelter Zeitgenosse, der überall dort auftaucht, wohin der Erzählstrang ausschlägt. Vor allem ist er selbst ausreichend damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Der Star des damaligen Unterhaltungsgewerbes tanzt auf dem Seil, dass den Zuschauern der Atem stockt, er hält so viele Bälle gleichzeitig in der Luft, dass einem schwindelig werden könnte. Doch das Spiel täuscht nicht darüber hinweg, dass die Lage todernst ist. So viel Gewalt, so viel Entbehrung. Aber Tyll wird nicht sterben. Er wird niemals sterben. Das beweist dieser Roman.

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Daniel Kehlmann

Die Kapitel springen durch die Zeiten, mal vor und mal zurück, als gelte es, die Aufmerksamkeit des Lesers zu prüfen. Doch an der Konzentration dürfte kein Mangel herrschen bei einem Roman, der vom Traurig-Abenteuerlichen so deftig, so fantasievoll, so kurzweilig, so amüsant und auch so erhellend zu erzählen weiß. Ja, der Text verstärkt geradezu den Wissensdurst, indem er uns mit vielen Menschen bekanntmacht, von denen man gerne mehr wissen möchte.

Da nennen wir nur den norddeutschen Hofmathematiker Adam Olearius, dessen unerhörte Reise nach Persien beiläufig in einem einzigen Satz gestreift wird. Oder Athanasius Kircher, Professor des Collegium Romanum zu Rom, der Abhandlungen zu vielen großen Lebensfragen geschrieben hat – von der Behandlung der Pest bis zum Bauplan der Arche Noah. Na, und wenn Daniel Kehlmann solche Herren ins Gespräch bringt, dann ahnt der geneigte Leser sofort, dass dies nur amüsant werden kann. Geistesgrößen sind bei diesem Autor immer gut aufgehoben, um deren eventuell vorhandene Eitelkeiten kenntlich zu machen.

Viele heitere Passagen

Großartig das stumme Entsetzen eines jeden über die Begriffsstutzigkeit des anderen. Das war schon in der „Vermessung der Welt“ zu genießen. So ist dieses Panoptikum nicht nur voller Schrecken, sondern auch gut durchsetzt mit Heiterkeiten. Und mit vielen starken Szenen. Mit Passagen, die man nicht so schnell vergisst. Berührend in ihrer Nonchalance ist der Moment, in dem sich die Tänzerin Nele zögernd von ihrem Lebensgefährten Tyll trennt, weil sie einem alten Herrn gefällt, der ihr ein auskömmliches Leben verheißt. Und dann Elisabeth, die in bescheidenen Verhältnissen lebende „Winterkönigin“, die ihren kurfürstlichen Friedrich einst zur böhmischen Krone überredet hatte, womit der Krieg seinen Auslöser gefunden hatte! Wie sie die im Zeremoniell verhakten Diplomaten in Osnabrück aufmischt, ist ein Fest der Kühnheit und ein kleines Lehrstück in höherer Politik: Sie hat nichts in der Hand, aber spielt auf Sieg.

Dieser prachtvolle Roman hat die Großen im Blick, aber erst recht die Kleinen. Als Graf Martin von Wolkenstein irgendwo in den verwüsteten deutschen Landen einen verwilderten Mann und seinen Sohn trifft, die einen Karren ziehen, fragt er sie, warum sie ihn zögen: „Es ist alles, was wir haben.“ – „Aber er ist leer.“ sagte der dicke Graf. – „Aber es ist alles, was wir haben.“

Daniel Kehlmann: „Tyll“, Rowohlt, 480 Seiten, 22,95 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Kölner Lesung im Rahmen der lit.Cologne-Spezial am 13. 10. um 19.30 Uhr im WDR-Funkhaus.

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