Literatur"Sein Jackett gefiel ihnen nicht"

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"Für Katharina Blum" - diese Widmung ist gewiss die überraschendste Zeile in dem Band "Mut und Melancholie". Norbert Bicher stellt darin das Verhältnis zwischen Heinrich Böll und der SPD dar, vor allem zum ehemaligen Vorsitzenden Willy Brandt. Diese Abhandlung in Briefen, Texten und Dokumenten der Titelheldin aus Bölls bekanntester Erzählung zu widmen, passt recht gut. Denn das gesellschaftliche Fieber während des RAF-Terrors, von dem Bölls Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" handelt, spielt auch in diesem Sachbuch eine große Rolle.

Böll und Brandt? Norbert Bicher zählt viele Verbindungslinien auf. Beide hätten auf ihre Weise dazu beigetragen, "die junge Bundesrepublik aus der Adenauer'schen Erstarrung" zu lösen. Beide seien von Konservativen verunglimpft worden, "der eine als ewiger Emigrant, der andere als literarischer Nestbeschmutzer". Beide erreichten "fast gleichzeitig den Gipfel ihres internationalen Erfolgs": Friedensnobelpreis 1971, Literaturnobelpreis 1972. Beide seien Hoffnungsträger für Menschen im Ostblock und Identifikationsfiguren für die Jungen im Westen gewesen. Beide schließlich seien von "Phasen tiefer Melancholie" befallen gewesen. Bicher geht davon aus, dass Brandt auch in eigener Sache sprach, als er über Böll schrieb: "Sie suchten ihn als geistigen Urheber des Terrorismus zu verleumden, und sein Jackett gefiel ihnen nicht. Seine Würde vermochte das nie anzukratzen. Aber das Leben wird ihm oft sauer geworden sein. Ihm, der anderen Hoffnungen machte, war die Melancholie nur zu vertraut."

Böll hat sich zuweilen gesträubt, vor den Wahlkampf-Karren gespannt zu werden. Darüber gab es gar eine Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Günter Grass, der ihn an die "Sozialdemokratische Wählerinitiative" binden wollte: "Nein, lieber Günter Grass, ich wäre bereit, für Willy Brandt alles zu tun, aber ich kann nichts für eine Regierung tun, die die ganze demagogische Scheiße bis in die letzte Provinzecke durchsickern lässt." Gemeint waren damit die heftigen Reaktionen auf Bölls "Spiegel"-Artikel "Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?" vom Beginn des Jahres 1972.

Irritierend wirkt, dass Herausgeber Bicher, der einst als Sprecher für die SPD in verschiedenen Bereichen aktiv war, sich darüber heute noch ereifern kann, als stünden wir weiterhin mitten im Debatten-Streit. So spießt er auf den wenigen Seiten seiner Einführung gleich mehrfach die "maßlose Wut der Konservativen" auf.

Die Dokumente, von denen einige bislang unveröffentlicht waren, stammen zu einem großen Teil aus dem Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie zeigen, dass sich Böll in den Wahlkämpfen zuweilen doch klar positioniert hat. 1969 veröffentlichte er einen Wahlaufruf, in dem es heißt. "Bitte: Schauen Sie sich den Wahlschein an: Alles außer NPD und CDU steht Ihnen zur Verfügung." Und 1972 tut Böll öffentlich kund, dass er und seine Frau Annemarie im Wahlkampf Willy Brandt "in jeder möglichen Form" unterstützen wollten.

Gleichwohl hielt Böll im Gegensatz zu Grass eine gewisse Distanz zur Partei. Wo Grass ausweislich seines Briefwechsels mit Willy Brandt mit Ratschlägen an den Bundeskanzler und Parteivorsitzenden nicht geizte, verstand sich Böll weniger als intellektueller Wegweiser. Eher nutzte er die Nähe zur Spitze der deutschen Politik, um sich für verfolgte Kollegen im Osten einzusetzen - für Lew Kopelew in der UdSSR oder für Adam Michnik in Polen. Und noch in seinem Todesjahr gibt er Brandt einen Brief an Michail Gorbatschow mit, in dem er darum bittet, das Haus von Boris Pasternak in Peredelkino nicht aufzugeben, sondern als Erinnerungsstätte auszubauen. Heute ist das Haus, in dem Pasternak "Doktor Schiwago" schrieb, ein Museum.

Großsprechereien waren nicht Bölls Sache. Vor der Bundestagsfraktion der SPD rief er 1974 dazu auf, sich von "dem dummen Klischee zu befreien, wir, Intellektuelle und Schriftsteller, wären Moralisten oder das Gewissen der Nation. Wir sind nichts weiter als in diesem Lande arbeitende und Steuer zahlende Staatsbürger, die sich möglicherweise - ich betone möglicherweise - gelegentlich besser artikulieren als irgendein Staatsbürger, der ebenso das Gewissen der Nation verkörpert, sei er Arbeiter, Bankdirektor, Lehrer, Abgeordneter."

Mit Herbert Wehner hatte Böll ein vertrauensvolles Einvernehmen. Und mit Helmut Schmidt, so sagte er einmal, könne er sich besser unterhalten als mit Brandt. Gegen Ende seines Lebens war der Wahlkämpfer Böll dann zu den Grünen gewechselt. Gleichwohl hielt die Verbindung zur SPD. Zu seinem 65. Geburtstag im Jahre 1985 schrieb Brandt: Böll "ist von der Sorte, die einen gewissen antiintellektuellen, antimoralistischen, antilibertären Hass magnetisch anzuziehen scheint, weil sie es nicht lassen kann, sich menschenwürdig zu verhalten."

Manches im Buche überrascht. So die Tatsache, dass Böll einen Essay über Brandt verfasst und diesen vor Veröffentlichung zur Prüfung einreicht. "Lieber, verehrter Herr Bundeskanzler, "schreibt er am 20. Mai 1972 aus der Hülchrather Straße in Köln nach Bonn, "Ihnen oder Ihrer Frau oder Ihnen beiden gemeinsam möchte ich den beiliegenden Artikel gerne zur »Zensur« oder auch zur »Redaktion« vorlegen ... und streichen Sie mir das, was Ihnen peinlich sein könnte, einfach weg."

So ist diese Dokumentation alles in allem ein schöner Mosaikstein zu dem Bild, das Geist und Politik in Deutschland abgeben. In diesem Falle geht es gar um jene Jahre, da beide Sphären so eng verbandelt schienen wie seitdem nicht mehr. Brandt hat Bölls gelegentliche Nähe zu schätzen gewusst. Seine Gespräche. Aber auch seine Werke. In einem Nachruf schrieb er: "Eine Gesellschaft müsste von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie ihre Literatur, die ja unter anderem auch materialisiertes Gedächtnis ist, nicht zur Selbstverständigung nutzen wollte."

Premiere heute

Norbert Bicher: "Mut und Melancholie - Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD", Verlag J.H.W. Dietz, 248 S., 22 Euro.

Buchvorstellung mit dem Herausgeber Norbert Bicher und den Böll-Experten Jochen Schubert und Gabriele Ewenz am 28. September um 19 Uhr in der Kölner Stadtbibliothek (Josef-Haubrich-Hof 1). Eintritt: frei.

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