Neu in KölnDas fremde Zuhause

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Unter dem Schatten des Kölner Doms tummeln sich jedes Jahr zehntausende neue Zugezogene. (Bild: Christoph Hennes)

Unter dem Schatten des Kölner Doms tummeln sich jedes Jahr zehntausende neue Zugezogene. (Bild: Christoph Hennes)

Köln – Svenja zögert. Soll sie, soll sie nicht? „Dann trinke ich jetzt eben diese ekelhafte Plörre, ich will mich ja in der Stadt verwurzeln.“

Ein Kölsch. Aber nur, weil sie neu ist und noch nicht so richtig angekommen. Svenja hängt an Dortmund, ihrer Heimat. Die Eltern, die Freunde, das Gefühl, das alles ist noch dort. Seit Juni ist sie in Köln – und nein, sie kannte hier niemanden.

Tagsüber ist keine Zeit für Einsamkeit, da promoviert sie an der Uni. Aber abends gebe es ja doch nur das schlechte Fernsehprogramm.

Zugezogene organisieren „Stammi“

Der Kellner stellt zwei Kölsch auf die Theke, Svenja dreht sich um. Neben ihr steht Michael. Ob sie zusammen einen Deckel nehmen wollen? Michael nickt.

Er ist einer der Gründe, warum Svenja heute Abend nicht zu Hause sitzt, sondern neben ihm in der Kneipe „Museum“ am Zülpicher Platz steht. Und ein Kölsch trinkt.

Der „Stammi“, so nennt Michael das Treffen. Der Stammi wurde in einer Zeit gegründet, als Facebook noch StudiVZ hieß. Menschen, die neu in Köln sind, sollen sich treffen, einen netten Abend verbringen, Freunde finden.

Michael hat die Gruppe auf Facebook wiederbelebt. Seitdem ist es ein eigener virtueller Kosmos, der nach Angebot und Nachfrage funktioniert, mit mehr als tausend Mitgliedern.

Wer?, Seit wann?, Warum

Biete drei Karten für Harald Schmidt, wer kommt mit? Suche eine Reinigung, zu der man Blusen nach 20 Uhr zum Bügeln bringen kann. Wer hat Lust auf Salsa? Stammtische gibt es montags, dienstags, donnerstags, freitags. In der Südstadt, in Sülz, in Deutz, in Ehrenfeld. Immer und überall.

Aber heute Abend ist Stammi, „das Original“, immer donnerstags. „Manchmal sind wir mehr als 50 Leute, viele bekannten Gesichter, aber auch immer einige Neue.“ Michael sieht sich um. „Aber momentan sieht es aus, als würden wir nicht so viele.“ Die Gruppe, fast zehn Personen, steht noch etwas steif aufgereiht an den Barhockern. Aus den Boxen ertönt fast leise etwas Indiemusik.

Michael dreht sich um, zwei Mädchen stehen in der Tür. Die eine blond, die andere braune Haare, Brille. Sie schauen einander kurz an, dann gehen sie mit festem Schritt auf die Gruppe zu. Sie sind neu in Köln, klar.

Jetzt geht es um die Details. Wer? Tiff und Fee. Seit wann in Köln? Seit zwei Monaten. Was? Eine Ausbildung nach dem Studium. Warum hier? Wollen abends nicht auch noch unter Psychologen sein, brauchen einen Ausgleich. Und dann erzählen sie noch ein bisschen mehr.

Davon, dass es nicht mehr so ist wie früher in der Uni. Als es noch einen Basar an Möglichkeiten gab, neue Leuten kennenzulernen. Bei der Ersti-Party, im Seminar, in der Mensa. Die meisten, so scheint es, sind berufstätig, nicht alle haben Kollegen im gleichen Alter oder mit dem gleichen Humor.

Schulkameraden ohen gemeinsame Vergangenheit

Mittlerweile ist es voll geworden, die Barhocker sind zur Seite gerückt, es ist nicht mehr zu erkennen, wer noch zum Stammtisch gehört. Die Musik wird jetzt lauter, Robbie Williams darf von seiner Liebe zu Engeln singen. Die Kölsch werden jetzt nicht mehr einzeln bestellt sondern als ganze Runde.

Es ist ein Klassentreffen von Menschen, die nie zusammen zur Schule gegangen sind. Von Menschen, die etwas verbindet, die aber keine gemeinsame Vergangenheit haben. Deshalb kann jeder genauso viel erzählen, wie er Lust hat. Und wen es nervt, dass Tiff, Fee und ein blondes Mädchen gerade begeistert einen DVD-Abend planen, der kann sich einfach umdrehen, zur nächsten Gruppe rotieren. Dort erzählt gerade ein junger, schmächtiger Mann, dass er sich hier, beim Stammi, als Bi geoutet hat. Es sind ja schließlich seine Freunde, in der Schwulenszene hier in Köln, da fühlt er sich nicht so wohl. Zu extrem, sagt er.

Alles kann nichts muss

Und dann ist da noch der ehemalige Soldat, der sich erst nicht getraut hat, zum Stammtisch zu gehen, und dann hat er seine Freundin beim ersten Mal kennengelernt. Sie kann leider heute nicht da sein, sagt er, muss lernen. Und ja, es gibt auch das Mädchen, das in einer ruhigen Minute erzählt, dass es hier nett sei, aber doch auch oberflächlich. Richtige Freunde könne das nicht ersetzen. Aber das sei eben bei jedem anders. Alles kann, nichts muss.

Halb elf. Auf dem Fernseher über der Theke bewegt sich etwas, erst ein leichtes Flackern, dann erscheint eine weiße Schrift. „Karaoke“, ruft einer. Die Köpfe drehen sich zur Bühne in der Ecke des Raumes. Schon geht das Lied los, Marius Müller-Westernhagen.

„Ich bin wieder hier, in meinem Revier.“ Svenja lächelt, die Augen sehen raus aus der Kneipe, ganz weit weg. „Das Lied ist doch aus’m Pott, bei mir zu Hause“. Und dann bestellt sie noch ein Kölsch. Der Barmann zieht den achten Strich auf ihren Deckel.

So funktioniert die Gruppe: In der Facebook-Suche „Neu in Köln“ eingeben, auf Gruppen klicken und Mitgliedschaft beantragen. Nach der Freischaltung sind auf der Pinnwand sämtliche aktuellen Themen zu sehen. Unter Dokumente gibt es eine Übersicht mit allen Stammtischen und Sportaktivitäten.

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