Online-LiebeRomantik 2.0

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Kerstin Nitschke und Tim Diekhans haben sich im Netz kennengelernt. (Bild: Bause)

Kerstin Nitschke und Tim Diekhans haben sich im Netz kennengelernt. (Bild: Bause)

Gelegenheiten gab es mehr als genug. Sie haben am selben Gymnasium Abitur gemacht, getrennt nur durch einen Jahrgang. In der Kölner Südstadt waren sie eineinhalb Jahre lang Nachbarn, wohnten einander fast gegenüber. Und sie arbeiten in Unternehmen, die seit Jahren intensive Geschäftsbeziehungen pflegen. Aber kennengelernt haben sich Kerstin Nitschke und Tim Diekhans trotzdem nicht auf der Straße, im Supermarkt oder durch gemeinsame Freunde, sondern im Internet. Ausgerechnet in den unendlichen Weiten des Worldwide Web, wo neue Bekanntschaften überall auf der Welt genauso nah sind wie Kontakte in derselben Stadt.

Anfang Juni 2008. Kerstin hat sich nach fünf Jahren Beziehung von ihrem Freund getrennt. Allein zieht sie nach Klettenberg. „Ich wollte erst mal mein Single¬leben ordnen.“ Ihre beste Freundin drängt sie, sich bei einem Online-Dating-Portal im Internet anzumelden – sie selbst hat dort ihren Mann kennengelernt. Kerstin ist unsicher, war vor ihrer letzen Beziehung schon mal bei einer Single-Börse – damals ohne Erfolg. Aber irgendwann meldet sie sich dann doch einfach noch mal an. Und sie hat klare Vorstellungen: „Er sollte ein bisschen größer sein als ich, beim Thema Kinder nicht gleich von vorneherein Nein sagen. Außerdem suchte ich jemanden, der gar nicht oder nur selten raucht, und er sollte sich für Sport interessieren.“

Keine ernsthafte Beziehung erwartet

Hohe Erwartungen hat die 35 Jahre alte Personalreferentin nicht. Zur selben Zeit ist auch Tim nach einer verkorksten Beziehung wieder solo: „Wir hatten uns eigentlich nur gestritten.“ Genervt fährt er mit zwei befreundeten Pärchen nach Mauritius. „Da habe ich dann gemerkt, dass mir Nähe fehlt.“ Wieder in Köln meldet er sich ebenso wie Kerstin bei einem Online-Dating-Portal an. „Ich habe mir aber nicht wirklich vorgenommen, da nach einer Beziehung zu suchen“, sagt der 33-jährige IT-Aministrator.

So wie Kerstin und Tim gehen heute mehr Singles als je zuvor in Online-Portalen auf Partnersuche. Das Internet liegt nach dem Arbeits-platz und dem Freundeskreis schon auf Platz drei der Orte, an denen Singles einen Partner finden. Nach einer Studie von Singleboersen-Vergleich.de sind in Europa rund 40 Prozent aller Singles im Internet auf der Suche nach der großen Liebe. Pro Monat sind in Deutschland ungefähr sieben Millionen Menschen in Online-Dating-Portalen aktiv, weitere drei Millionen suchen sexuelle Kontakte. Im Laufe der ver-gangenen Jahre haben sich laut der Studie über 54 Millionen Mitgliedschaften angesammelt. Davon sind allerdings sehr viele Karteileichen.

Erfolgsquoten hoch

„Der Branchenumsatz hat sich in Deutschland von 2003 bis 2008 versiebenfacht und liegt bei 163,3 Millionen Euro“, sagt Henning Wiechers von Singleboersen-Vergleich.de. Glaubt man den Anbietern, ist die Erfolgsquote von Singlebörsen erstaunlich hoch. Laut der Elite Partner Single-Studie aus dem Jahr 2007 gelang es bisher sechs Millionen Deutschen, via Internet eine Beziehung zu finden. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien ermittelte in einer Umfrage, dass 1,3 Mil¬lionen Menschen im Internet einen Lebensgefährten gefunden haben. Welche Zahl auch der Realität näher kommen mag, die Aussichten, im Internet den Richtigen zu treffen, sind vielversprechend. Und doch können sich viele Singles nicht vorstellen, per Online-Dating einen Partner zu suchen. Zwar dient das Internet in unserer Zeit ganz selbstverständlich als Dienstleister, der das Leben vereinfacht: Informationen besorgen, Urlaub buchen, E-Mails schreiben, Rechnungen bezahlen.

Das alles ist heutzutage selbstverständlich. Aber die scheinbar so künstliche virtuelle Welt auf tiefe Gefühle zu sondieren, empfinden vie-le als zu sachlich, zu geplant. Die Suche im Netz scheint dem Durchblättern eines Modekatalogs zu ähneln. Man schaut, vergleicht, und am Ende bestellt man sein Lieblingsstück. Immer verbunden mit der Unsicherheit, ob es einem auch wirklich steht, ob es passt und sich gut anfühlt. Tim Diekhans kann verstehen, dass viele Singles nicht so recht wissen, ob sie im Internet nach der großen Liebe suchen sollen. „Mir war es am Anfang auch ein bisschen unangenehm, das hat so ein wenig den Touch, als würde man sonst keine abkriegen.“ Die Möglichkeit, sich über Hobbys, Beruf, Musikgeschmack und Lieblingssportarten vor einer ersten Kontaktaufnahme zu informieren, sieht er positiv: „Der erste Eindruck ist viel detaillierter, als wenn man jemanden auf der Straße trifft.“

„Ich dachte, der Surfertyp steht eh nicht auf mich.“

Fünf Wochen lang ist Kerstin alias „Krawallbutz“ im Internet auf der Suche, manche Männer findet sie ganz sympathisch, aber wirkliches Interesse kann keiner bei ihr wecken. Dann fällt ihr „datymcologne“ auf. Besonders das Foto spricht sie an, drei Tage hintereinander schaut sie das Profil an, dann fasst sie sich ein Herz, obwohl sie unsicher ist, wie er reagieren wird. „Ich dachte, der Surfertyp steht eh nicht auf mich.“ Entsprechend kurz fällt ihre erste Mail aus: „Hi, ich warte erst mal ab, ob du mir antwortest, bis ich mehr erzähle, Gruß Kerstin.“ Tim mag Kerstins Profilfoto, darauf ist sie vor einem froschgrünen Fahrrad zu sehen. Ein paar Tage später folgt seine erste Mail: „Wer so ein tolles Fahrrad hat, dem muss man ja antworten.“ Kerstin freut sich über seine Reaktion und wird mutiger: „Was muss ich tun, um mehr von dir zu erfahren?“ Und Tim geht auf die Vorlage ein: „Köln und Köln liegt nicht so weit auseinander, wir könnten uns auch auf einen Kaffee treffen.“ Sie verabreden ein Treffen im Filos in der Südstadt. Ganz bewusst nur auf einen Kaffee.

Auch die Hamburger Journalistin Judith Alwin ist das Wagnis „Suche im Netz“ eingegangen. Drei Jahre lang hat sie in zahlreichen Partnerbörsen nach ihrer großen Liebe gesucht. Und nach vielen spannenden, lustigen und aufschlussreichen Erlebnissen hat sie tatsächlich ihren Traummann gefunden. „Ich nutze das Internet auch beruflich ständig, da war es für mich nur natürlich, es auch mit der Partnersuche im Internet zu versuchen“, sagt Alwin, die ihre Erfahrungen in dem Buch „Ins Netz gegangen“ dokumentiert hat. Und sie ist die Suche nach dem Einen entsprechend pragmatisch angegangen: „Man muss rauskriegen, solche Anzeigen so zu lesen wie Wohnungsanzeigen. Ich kann heute zu 80 Prozent feststellen, ob der Mensch, so wie er sich dort präsentiert, wirklich dahintersteckt. Die letzten 20 Prozent sind dann das Treffen im realen Leben. Es ist eine psychologische Weltreise durch das eigene Ich.“ Denn dies ist der alles entscheidende Moment, wenn nach Mails, SMS und Telefonaten das erste Treffen ansteht. Dann muss sich zeigen, ob die Erwartungen erfüllt werden, ob die Puzzleteile, die man bisher erhalten hat, zusammenpassen und wirklich das Bild ergeben, das man sich erhofft.

Soll ich sie küssen?

Am Tag ihres ersten Dates haben weder Tim noch Kerstin Lust, sich mit jemandem zu treffen, den sie überhaupt nicht kennen. Tim steht unschlüssig vor dem Kleiderschrank. „Was ziehe ich an? Soll ich mich schick machen?“ Doch dann entscheidet er sich für Jeans und Turn-schuhe. „Nervös war ich überhaupt nicht, ich habe gar nichts erwartet.“ Auch Kerstin ist unmotiviert, geht nach der Arbeit erst mal joggen. „Ich habe rumgetrödelt und ernsthaft überlegt, abzusagen.“ Ihre Schwester drängt sie, zu dem Treffen zu gehen. „Also habe ich irgendwas aus dem Schrank gegriffen und bin los, allerdings war ich viel zu spät dran.“ Sympathisch sind sie sich vom ersten Moment an. Und bei Kaffee bleibt es dann doch nicht. Sie trinken Kölsch, reden stundenlang. Schnell stellen sie fest, dass sie aus demselben Kölner Stadtteil kommen, zur selben Schule gegangen sind, beide in der Südstadt gewohnt haben. „Es ist schon seltsam, wir sind uns garantiert schon mal über den Weg gelaufen, aber wir haben das Internet gebraucht, um uns bewusst wahrzunehmen“, sagt Kerstin. Sie ziehen weiter, erst ins „Unkelbach“, bis das schließt, danach gehen sie in die „Südkurve“, spielen Darts und Billard.

„Bis halb vier waren wir unterwegs, und beim Billardspielen haben wir angefangen rumzuknutschen“, erinnert sich Kerstin. Tim bringt sie danach nach Hause, schreibt ihr noch in der Nacht eine SMS. Zwei Tage später, an einem Samstag, wollen sie sich wiedersehen. Kerstin ist mit Freunden im Brauhaus „Päffgen“, Tim ebenfalls mit Freunden unterwegs. Beide sind sehr aufgeregt vor der ersten Begegnung nach ihrem Kennenlernen. „Als ich reinkam, dachte ich nur, soll ich sie küssen oder soll ich sie nicht küssen? Sind wir jetzt zusammen?“, sagt Tim. Und Kerstin geht’s nicht besser. „Vor dem ersten Treffen hatte ich ja gar keine Erwartungen, aber es war so toll, wir haben viel gelacht, uns super unterhalten und dann auch noch das gute Knutschen. Da hat mein Herzchen schon sehr geklopft, als er reingekommen ist.“ Doch ein Blick reicht, und beiden ist an diesem Abend klar, dass sie zusammen sein wollen.

Gefühle in virtuellen Welten

Ein Jahr liegt ihr Kennenlernen heute zurück. Im Dezember ist Tim zu Kerstin gezogen. Heute empfinden beide es nicht mehr als seltsam, dass ihre Beziehung im Internet begann. Gefühle können auch in virtuellen Welten entstehen, da sind sie sicher. „Die Romantik bleibt auf keinen Fall auf der Strecke. Viele entdecken sogar erst im Internet ihren Sinn für Poesie, auf der Straße würde man schließlich niemals jemandem einen Liebesbrief zustecken“, sagt Tim.

Auch Judith Alwin ist überzeugt, dass die Suche nach der großen Liebe auch im Internet unsere Sehnsucht nach echten Gefühlen erfüllen kann: „Es können auch dort Schmetterlinge schwirren. Da ist schon eine Menge Emotion dabei, die Aufregung, die Vorfreude. Natürlich fängt die richtige Romantik mit dem ersten Gegenüberstehen an, aber die Fantasie wird im Vorfeld sehr beflügelt. Es ist einfach eine neue Form der Romantik.“ Kerstin und Tim sind froh, dass sie ihre Bedenken über Bord geworfen und den Schritt ins Netz gewagt haben. Und dass sie sich – trotz der beinahe unbegrenzten Auswahl – im Internet und nicht auf der Straße oder im Supermarkt gefunden haben, bestärkt sie in ihren Gefühlen: „Der Versuch, Zufälle auszumerzen und gezielt zu suchen, hat bei uns zu einem viel größeren Zufall geführt.“

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