Organspende„Der Hirntod ist nicht der Tod“

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Wann ist der Mensch tot? Wenn das Gehirn versagt oder wenn das Herz aufhört zu schlagen? (Bild: psdesign1 - Fotolia)

Wann ist der Mensch tot? Wenn das Gehirn versagt oder wenn das Herz aufhört zu schlagen? (Bild: psdesign1 - Fotolia)

„Der Hirntod – ein sicheres Zeichen“, so ist es auf der Organspende-Informationsseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu lesen. Doch in der Wissenschaft und jüngst auch im deutschen Ethikrat wird längst debattiert, ob der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist. Wäre dies der Fall, hätte das Auswirkungen für die Organspende. Eine Organentnahme wäre dann nämlich eine Tötung. Ein Kritiker des Hirntodkonzepts ist Dr. Paolo Bavastro.

Dr. Bavastro, zurzeit können Menschen Organe entnommen werden, wenn Sie als hirntot gelten. Sie zweifeln an diesem Konzept?

PAOLO BAVASTRO Ich zweifle nicht am Hirntod als Erkrankung. Ich plädiere aber für den Begriff Hirnversagen in Anlehnung an die medizinischen Begriffe wie Nieren- oder Herzversagen.

Ist denn der Hirntod für Sie nicht mit dem Tod gleichzusetzen?

BAVASTRO Der Hirntod ist nicht der Tod, das ist biologisch sowie von den Phänomenen her Unsinn. Die Menschen in dem Zustand sind Sterbende. Sie sind bewusstlos und werden beatmet, aber ihr Herz schlägt von allein.

Was kann ein Körper in dem Zustand denn noch leisten?

BAVASTRO Der Körper kann geimpft werden, Antikörper bilden, Urin und Stuhl ausscheiden, er ist warm, kann schwitzen, zeigt viele Reflexe – das sind Phänomene, die zum Leben gehören. Mein persönliches Evidenz-Erlebnis hatte ich vor 20 Jahren: Ich habe damals eine schwangere Frau im Hirnversagen über drei Monate behandelt – bis sie ihr Baby zur Welt gebracht hat. Das Kind lebt heute und ist gesund. Eine Leiche kann aber doch kein Kind zur Welt bringen.

Sie behaupten also, dass sogenannte Hirntote noch leben?

BAVASTRO Ja, diese Menschen sind irreversibel krank, sie sind Sterbende, aber sie leben noch. Das Problem bei der Diskussion ist, dass Leben mit Bewusstsein verwechselt wird. Das Menschenbild nach Descartes – das Gehirn sei die zentral steuernde Instanz, der Mensch als Maschine, die Organe die Teile davon – das der Transplantationsmedizin und dem Hirntod-Konzept zugrunde liegt, ist nicht haltbar. Das Leben hängt nicht nur am Gehirn. Ein Widerspruch am Konzept „Hirnversagen ist gleich Tod“ ist zudem die Tatsache, dass Organspender narkotisiert werden. In manchen Ländern ist das sogar Pflicht.

Spüren denn Menschen im Hirnversagen Schmerzen?

BAVASTRO Ja, sie empfinden eine Art unbewussten Schmerz. Es gibt eine Studie über die Organentnahme bei Hirntoten, die in Vollnarkose waren. Es wurde festgestellt, dass sobald der Chirurg zum Schnitt ansetzt, Puls, Stress-Hormone und Blutdruck hochgehen – wie bei jedem anderen Patienten.

Sind Sie demnach gegen Organspenden?

BAVASTRO Ich stelle mich nicht gegen Organtransplantationen an sich, fordere aber, dass die Menschen richtig informiert werden. Ich fordere die gleiche gründliche Aufklärung wie vor jeder anderen OP. Was derzeit passiert ist arglistige Täuschung. Die Menschen werden absichtlich nicht aufgeklärt. Und viel schlimmer noch ist, dass seitens der Deutsche Stiftung Organtransplantation moralischer Druck ausgeübt wird, nach dem Motto: Nur Organspender sind gute Menschen. Dabei sterben Menschen nicht an Organmangel, sondern an ihrer Krankheit.

Ist denn die Organentnahme – mit der richtigen Aufklärung – an sich unproblematisch für Sie?

BAVASTRO Zurzeit werden Menschen nach dem Hirnversagen weiterbehandelt, obwohl der Totenschein ausgestellt wird. Das heißt, dass sie fremdnützig weiterbehandelt werden, also ohne dass es den Patienten selbst noch etwas nützt. Diese Konstruktion ist ethisch meiner Meinung nach nicht vertretbar.

Haben Sie selbst einen Organspenderausweis?

BAVASTRO Ja, mit dem Text: Der Hirntod ist nicht der Tod. Ich bin kein Organspender. Eine Organtransplantation ist eine Tötung, trotzdem sollte eine Organentnahme möglich sein – aber nur, wenn der Betroffene nach einer vollständigen Aufklärung selbst zugestimmt hat. Ich schlage ein Konzept wie bei der Abtreibung vor, bei der die Tötung straffrei ist. Auf dem Ausweis müsste stehen: Ich bin bereit, Organe zu spenden, obwohl ich nicht tot, sondern im Hirnversagen ein Sterbender bin.

Eine Formulierung, die vermutlich nicht sehr viele Menschen reizt, Organspender zu werden...

BAVASTRO Das ist richtig. Man kann Menschen aber nicht absichtlich im Dunkeln lassen und für tot erklären, nur damit man mehr Organspenden bekommt. 1968 wurden die Harvard-Kriterien zur Feststellung des Hirntods und dessen Gleichsetzung mit dem Tod publiziert. Sie wurden – und das steht dort wörtlich – als praktisch angesehen, um mehr Organspenden zu bekommen. Das hat 2008 auch der President’s Council on Bioethics kritisiert.

Das Gespräch führte Madeleine Gullert

DIE HIRNTOD-DEBATTE: Ethikrat Der President’s Council on Bioethics (das US-amerikanische Pendant zum Deutschen Ethikrat) hat im Dezember 2008 das Grundlagenpapier „Controversies in the Determination of Death“ publiziert und fordert eine neue Debatte. Seitdem gibt es ein „Revival der Hirntoddebatte“, schreibt Sabine Müller, Medizinethikerin an der Berliner Charité. Der Rat gibt zu, dass das Funktionieren des Körpers nicht kurz nach Eintritt des Hirntodes aufhören muss. Das Gehirn sei nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen. Zudem könne nicht überprüft werden, ob kurz nach dem Hirntod der Tod eintrete. Patienten mit der Diagnose Hirntod werden nämlich Organspender oder sterben direkt, weil ihre künstliche Beatmung abgestellt wird. „Ein Neurologe aus den USA hat 170 Einzelfälle gesammelt, bei denen die hirntoten Patienten noch mindestens eine Woche gelebt haben“, sagt Sabine Müller. Ein Junge habe sogar noch 14 Jahre gelebt, auf Wunsch der Angehörigen. „Solche Studien sind aber aus ethischen gründen nicht zulässig“, sagt Müller.

Rechtslage Müller kritisiert die Formulierung im Organspendeausweis. Dort steht, dass die Menschen ihre Organe nach dem Tod spenden. „Der Mensch ist aber noch keine Leiche.“ Die Deutsche Stiftung Organspende halte an dem Konstrukt Hirntod gleich Tod fest, weil eine Organentnahme sonst eine Tötung wäre, es neue juristische Regeln bräuchte. Müller fordert Aufklärung: „Manche Organe, etwa die Nieren oder die Augenhornhaut , kann man entnehmen, wenn ein irreversibler Herz-Kreislauf-Stillstand eingetreten ist, der Mensch also wirklich tot ist.“ Wer dazu bereit ist, sollte die Möglichkeit haben, dass auf dem Spendeausweis zu bestimmen. (mgu)

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